Hermann Stehr, „Genius des …“

Vor 85 Jahren verfasste Hermann Stehr diesen recht besonderen Aufruf,

„Uns sollen die Zähne ausfallen und die Zunge im Munde verdorren, wenn wir am 10. April nicht dem Führer und seinen Taten ein begeistertes Ja zurufen.“

für den Anschluss Österreichs an das deutsche reich zu stimmen, dem Österreicher seinen Wunsch zu erfüllen. Oh, was hat der Österreicher bis dahin schon für „Taten“ vollbracht, die wahrlich, wenn ein „begeistertes JA zurufen“ verweigert wird, zu bestrafen sind mit dem „Zähne ausfallen“, mit dem „die Zunge im Munde verdorren“ …

Ja, Hermann Stehr, es ist eine weitere Stichprobe auf „Projekt Gutenberg-DE“. GDie bisherigen Stichproben auf „Projekt Gutenberg-DE“ haben das Verschweigen, die sonderliche Selektion von biographischen Angaben als Ergebnisse gebracht. Anders wird das bei Hermann Stehr gestaltet. In der Biographie auf „Projekt Gutenberg-DE“ bleibt der Nationalsozialismus nicht ausgespart, wird dieser nicht verschwiegen. Ist am 18. Oktober 2023 auf der Website „Projekt Gutenberg-DE“ zu lesen. Zum Verschweigen, zum Aussparen, zum Selektieren bei Hermann Stehr zusätzlich eine Art des Umgangs mit biographischen Angaben, die mit Schonung, mit Beschönigung beschrieben werden kann. Die von „Projekt Gutenberg-DE“ angegebene Quelle dafür ist ein Autor namens Dr. Stefan Lobe:

1926 wird er Gründungsmitglied der Preußischen Dichterakademie. Es folgen Auszeichnungen wie 1930 der ›Rathenau-Preis‹, 1932, die ›Goethe-Medaille‹, 1933 der ›Goethe-Preis der Stadt Frankfurt‹, 1934 der ›Reichsadlerschild‹.
Seit Mitte der 20er-Jahre nähert sich Stehr zunehmend der deutsch-nationalen Weltanschauung an. Nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten ist er weiterhin Mitglied der »gesäuberten« Dichterakademie. Im August 1934 unterzeichnet er nach Hindenburgs Tod den Aufruf zur Zusammenlegung des Amts des Reichspräsidenten und Reichskanzlers in der Person Hitlers. Ebenso rechtfertigt er in einem Zeitungsartikel die Legalisierung der Morde anlässlich des sog. »Röhm-Putsches«. Der nationalsozialistische Kulturbetrieb feiert Stehr als »Künder der deutschen Seele« und preist ihn wegen seiner »völkischen Erdverbundenheit«, doch entzieht er sich weitgehend der Vereinnahmung und verfasst auch keine Lobgesänge auf Adolf Hitler.
Hermann Stehr verkörpert mit seinem beachtenswerten Frühwerk (1898-1905) eine besondere Spielart des Impressionismus, die den »Naturalismus des Innenlebens« stofflich mit Themen der Heimatkunstbewegung verknüpft. Dies bleibt auch Grundlage der Werke seiner neuromantischen (ab 1909) und »völkischen« (ab 1926) Phase, die nichts mit der »Blut-und-Boden«-Literatur zu tun haben, weshalb der Autor auch vom dogmatischen Nationalsozialismus abgelehnt wird, während der offizielle NS-Staat ihn gleichzeitig als repräsentativen Dichter feiert.

„Doch entzieht er [Hermann Stehr] sich weitgehend der Vereinnahmung und verfasst auch keine Lobgesänge auf Adolf Hitler“. Nach den literarischen Kriterien der Lobgesänge waren es wohl keine „Lobgesänge auf Adolf Hitler“, aber „Lobzeilen“ auf den Österreicher allemal … Allein, was auf der Website der Stadt Münster“ am 18. Oktober 2023 zu Hermann Stehr zu lesen ist, läßt die auf „Projekt Gutenberg-DE“ geübte Nachsicht, Milde gegen Hermann Stehr, eine besondere Art der Verteidigung von Hermann Stehr —

Ein paar Zitate von dem auf der Website der Stadt Münster Veröffentlichten sollten genügen, daß auch diese Stichprobe nur eines auslösen kann, Verwunderung über den Umgang der Verantwortlichen von „Projekt Gutenberg-DE“ mit biographischen Angaben der von ihnen verbreiteten Schreibenden:

„Der alte Kämpfer Hitler ist mit den Landesverrätern in einer Nacht fertig geworden, der Staatsmann Hitler hat mit der Übernahme der Reichspräsidentschaft auch diese letzte Hoffnung auf die Gefährdung des neuen Reiches zunichte gemacht.“

In einem in seinem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindlichen Text spricht er sich vehement für den Anschluss Österreichs im Jahr 1938 aus: „…so stürmte das neu erstehende Volk einer neuen deutschen Welt trotz Tod und Verderben entgegen, denn ihm war von Gott in Adolf Hitler ein Führer gegeben worden, dem sie vertrauten, wie ihrem eigenen Herzen. […] “
Weiter schwärmte er von den Vorzügen und Erfolgen des neuen Regimes: (Abschrift der Brief-Handschrift, Seite 3 – Bild „Huldigungsbrief Stehrs auf Hitler“)
„Der Hunger floh aus den Hütten der
Armen, die Schlote rauchten wieder, die
Räder sausten. Aus einer erliegenden
wurde eine siegende Wirtschaft. Das
war das Ja der Zuversicht, das Deutsch-
land unter der Führung Hitlers dem immer
betroffener werdenden feindlichen Ausland auf-
drängte.“
Stehr schloss mit einer politischen Aufforderung:
„Und nun, zum letzten, hat er die jahrtausend
alte Sehnsucht der Deutschen nach Wiederver-
einigung mit Österreich erfüllt.
Das einige Großdeutschland ist erstanden
aus Heloten sind Herren geworden.
Uns sollen die Zähne ausfallen und die Zunge
[gestrichen: wenn] im Munde verdorren, wenn wir
am 10. April nicht dem Führer und seinen
Taten ein begeistertes Ja zurufen.“


Anfang April 1934 wird Stehr von der Deutschen Studentenschaft um Unterstützung für „eine vierwöchige Gesamtaktion gegen den jüdischen Zersetzungsgeist und für volksbewußtes Denken und Fühlen im deutschen Schrifttum“ gebeten, die im Mai in öffentlichen Bücherverbrennungen kulminierte. (Erdmann, S. 323f.)

Für seine Anpassung an die NS-Zeit lassen sich etwa in der Veröffentlichung „Das Stundenglas“ (1936) Beispiele finden. In „Über Kunst im heutigen Deutschland“ (Stehr, Stundenglas, S. 83ff.) wandte er sich gegen den „Weltkreuzzug der demokratischen Zivilisation“ und entschied sich für „den deutschen Geist“. Weiter schwärmte er: „Unter dem großen Sachwalter deutscher Kraft und deutschen Sinnes ist vor Jahr und Tag der gewaltige Umschwung gekommen.“ Es begann „die Aufrichtung eines neuen Deutschland“.

Stehr sprach vom „Genius des Führers“ und machte deutlich: „Darauf beruht die Möglichkeit und das Recht dessen, der aus rassischer und geschichtlicher Wirklichkeit Deutscher ist, im Deutschtum erkannt und erhalten zu werden. Hier wird deutlich, daß Volk sich nur unter der Herrschaft eines sinnvollen Willens, als Gefolgschaft des Führers, zu erfüllen und zu erhalten vermag.“

Der Sammelband „Das Stundenglas“ enthält weitere Beiträge, etwa die Ansprache „An die deutsche Jugend“, die erkennen lassen, dass der Autor eine „herrliche Wendung“ sah: „Es ist nicht getan mit dem Ruf ‚Heil Hitler‘ […] dadurch dokumentiert Ihr wohl äußerlich die Bereitwilligkeit zur Hingabe an die Verantwortung, die Ihr nach dem Befehl des Führers auf Euch genommen habt. Allein die Verantwortung muß, bis ins Innerste vertieft, zur Selbstverantwortung werden. […] Dadurch allein wird die Arbeit im Dienst des nationalen Sozialismus zur Weltanschauung vertieft und geweitet.“ (S. 116)

Stehr bediente sich nach 1933 vermehrt des aktuellen NS-Vokabulars, sprach vom „Zwang des Blutes“ und ließ sich offiziell als „Seher und Führer“ des neuen Deutschland feiern. Seine Weltsicht, seine Auffassung von der Gemeinschaft, sein „Glaube an deutsche Art und deutsches Wesen“ seien – so Erich Mühle, 1937 – „ganz deutsch“. (Stroka, S. 104)

„Seine Stellungnahme zum ‚Dritten Reich‘ war, wie die so manchen anderen namhaften deutschen Autors von der Wahnvorstellung durchdrungen, dass Hitler eine deutsche Sendung zu erfüllen hätte.“ So berichtete Alfons Hayduck von einem Besuch bei Stehr kurz vor seinem Tode:
„Hermann Stehr ist voll tiefer Bewunderung für die Waffentaten des erneuerten Deutschland […], für die säkulare Erscheinung des Führers, von dem der Dichter meint, dass die Kernpunkte seiner Kraft […] in der Lösung der sozialen Frage lägen, in der Überwindung der sprichwörtlichen deutschen Zwietracht.“ (Bundesarchiv, RKK, Stehr)

Gesinnungswechsel
„Stehr war ein Autor, dessen Stilmischung […] ihm zwar manchen literaturkundigen Bewunderer […], aber insgesamt nicht die Resonanz eintrug, die der sendungsbewußte Dichter für sich reklamierte.“ Er sah „die große Chance seines Lebens im Machtwechsel von 1933, als er in offizieller Sicht zum ersten Dichter der Nation avancierte“. „Jetzt hast du“, schrieb ihm der ehemalige Sektionssekretär für Dichtkunst Oskar Loerke im Dezember 1933, „mächtigere Freunde.“ (Scholdt, S. 740)

Hermann Stehr wird in den 1920er Jahren noch als progressiver Autor beschrieben. Politisch zeigte er während der Weimarer Zeit Bereitschaft, sich an einem demokratischen Gemeinwesen zu beteiligen. Um 1930/31 tritt eine Wandlung ein. Er wandte sich zunehmend konservativ-nationalen rechtsgerichteten Dichterkreisen zu, die etwa gegen den Import „wesenfremden“ Schriftgutes auftraten. Nach 1933 sollten diese Kreise dann eine wichtige Rolle im Literaturbetrieb des Dritten Reiches spielen. (Kunicki, 2009)

Am 15. März 1933 gehörte Stehr zu den ersten der 27 befragten Mitglieder der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, die eine von den Nationalsozialisten geforderte Erklärung positiv beantworteten, sich „unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage“ weiterhin diesem Gremium zur Verfügung zu stellen. Stehr und seine Freunde konnten die durch Ausschaltung sozialistischer und jüdischer Künstlerkollegen „gesäuberte“ Akademie für sich nutzen. Dies beschrieb der abgesetzte Oskar Loerke: „Als die Herrschaften sich selbst überlassen waren, wurde es unangenehm. Die guten alten triumphieren. Strauß, Stehr. Sie fühlen sich jetzt würdig und wichtig. Man hat ihnen Senatsstellen gegeben.“ (Tagebucheintrag Loerkes vom 09.06.1933, EDV-Abschrift DLA Marbach, zit. nach Sprengel, S. 56)