Am Nebentisch

In den Kaffeehäusern von Wien können immer noch Geschichten gehört werden, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, und in der Stadt dennoch rasch und trotzdem bestens bekannt werden, weil sie eben nur für eine einzige Person bestimmt waren. Auch die Geschichte, die hier weitererzählt wird, ist eine solche Geschichte, die für nur einen einzigen Zuhörer bestimmt war. Das Pochen auf Verschwiegenheit, die stets von Erzählenden dabei verlangt wird, es also nicht weiterzuerzählen, scheint aber doch nur ein Theaterpochen zu sein, denn die Erzählenden sehen doch die Gäste an den ganz nahen Nebentischen, und sie wissen aus eigener Erfahrung wohl nur zu gut, wie klar die Gespräche von den Nebentischen zu hören sind, wahrscheinlich haben sie selbst schon mitgehörte Nebentischgespräche weitererzählt, und das nicht nur einmal. Deshalb kommt auch kein schlechtes Gewissen auf, die zwangsläufig mitgehörte Geschichte weiterzuerzählen. Schuld an der Weitergabe trägt also der Erzählende selbst, aber auch die großformatige Zeitung hat Schuld daran, da ihre Inhalte nicht fesselnd genug waren, um sich in sie so zu vertiefen, als ob nichts sonst um sie herum mehr existierte; die Geschichte vom Nebentisch lenkte wohltuend von der Zeitung ab.

Es war kein klassisches Kaffeehaus, in dem die Geschichte mitgehört wurde, es ist ein Lokal, das an ein Kaffeehaus erinnert, wie es in Wien sie gegeben haben soll. Und die Geschichte lenkte zwar wohltuend von der Zeitung ab, aber es war keine wohltuende Geschichte. Es ist eine traurige Geschichte. Das Seltsame daran aber war, und das erhöhte die Aufmerksamkeit sofort ungemein, wer diese Geschichte am Nebentisch erzählte. Und das war nicht das einzige Seltsame, das am Nebentisch vor sich ging. Ein unkontrolliert lautes „Das darf nie öffentlich werden!“ war die Einladung, sich von der Zeitung nun gänzlich abzuwenden. Das wurde leiser wiederholt von dem Mann, der offensichtlich der Zuhörende war. „Das darf nie öffentlich werden!“ Der Zuhörer pochte also gegen alle Nebentischerfahrungen auf die Verschwiegenheit, und nicht wie sonst der Erzähler. Der Zuhörer war gut gekleidet, wie zu einem feierlichen Anlaß, im Knopfloch sogar eine Blume, er schien auf dem Sprung zu sein, er sah immer wieder auf die Uhr, während er mit der anderen Hand auf das vom Erzähler haltende Papier klopfte und darauf pochte, das dürfe nicht, niemals öffentlich werden, was das denn für eine Idee sei, so etwas veröffentlichen zu wollen, ja allein schon, so etwas zu schreiben, das könne der Partei nur Schaden zufügen, wo doch „unsere Partei am Sprung zur Macht“ sei, er solle nicht auf die Idee kommen, das in einer anderen Zeitung unterbringen zu wollen, eine Diskussion darüber und schon gar eine breite Diskussion darüber wäre gerade zur Zeit der vielen Wahlen die denkbar schädlichste „für unsere Partei“. Der Erzähler, durchaus ordentlich gekleidet, ein wenig hergerichtet vielleicht wie ein Gelehrter, mit einer Ausstrahlung, die signalisieren soll, ein freundlicher Mann, ein höflicher Mann zu sein, kam nicht zu Wort, war nun in der Rolle des Zuhörers, eigentlich mehr des Zurechtgewiesenen von dem Mann, der doch ihm zuhören sollte, von dem offensichtlichen Parteifunktionär dazu gedrängt, das Erzählte nicht öffentlich zu machen. Das Erzählte nicht auch gehört zu haben, das verpaßt zu haben, wurde sogleich bedauert. Der Ärger darüber aber, nicht sofort diesen Nebentisch sich zur Ablenkung von der Zeitung ausgesucht zu haben, war ebenso groß. Und dann auch noch, gerade im ungünstigen Augenblick, unbedingt auf die Toilette zu müssen.

Auf der Toilette und beim Gang zurück zum Tisch die Grübelei darüber, was könnte das wohl für eine Geschichte sein, die nicht veröffentlicht werden darf, weil sie einer Partei schaden könnte, und zugleich die Hoffnung, möglicherweise wird die Geschichte noch einmal erzählt werden, weil, wie aus den Nebentischerfahrungen bekannt, alles immer wiederholt wird, und gerade bei diesem Nebentischgespräch erschien die Wiederholungsnotwendigkeit eine hohe zu sein, hatte doch der Erzähler seinen Zuhörer vom Pochen auf die Verschwiegenheit, wie es schien, abzubringen. Aber schon auf der Höhe der Kuchenvitrine mußte eingesehen werden, die Geschichte wird nie zu erfahren sein. Der Mann mit dem freundlichen Gesicht, das wohl das eines Gelehrten sein soll, saß allein, der Parteimann mit der Blume im Knopfloch war offensichtlich gegangen, denn er kreuzte nicht den Weg vom Tisch zur Toilette. Der Mann mit dem Gelehrtengesicht hatte weiter oder wieder das Papier in der Hand, es waren mehrere Seiten, wie jetzt, zurück am Tisch, gesehen werden konnte, er blätterte vor, er blätterte zurück, schließlich hielt er inne, bei der ersten Seite, und, auch das kann seltsam genannt werden, er begann zu lesen, leise, aber am Nebentisch gut zu hören, wenn ganz konzentriert zugehört wird, kann an einem Nebentisch auch das Leiseste deutlich gehört werden, und es konnte gut verstanden werden, die Zeitung lenkte ja vom Zuhören nicht ab. Der Erzähler am Nebentisch war also alleingeblieben. Er mußte seine Geschichte nicht mit dem Pochen auf Verschwiegenheit einleiten, er war ja alleingelassen, er wußte, die Geschichte wird niemals öffentlich werden, und das ist das Seltsamste an diesem Nebentischerlebnis, daß der Mann dieses auf dem Wiener Westbahnhof Erlebte aufschrieb, von dem sonst nur gänzlich Gegenteiliges zum Lesen zu haben ist.

Am Nebentisch- Das darf nie öffentlich werden

Auf die Idee, das Handy als Aufnahmegerät zu verwenden, wurde nicht gleich gekommen, deshalb kann jetzt nicht mit letzter Bestimmtheit gesagt werden, ob der Titel „Integrationsverweigerung vertreibt Österreicher aus Österreich“ war, oder doch „Integrationsverweigerung der Österreicher treibt Österreicher aus Österreich“.

In der zum geringen Teil aus der Erinnerung und zum größten Teil nach der nicht gänzlich einwandfreien Aufnahme des am Nebentisch Vorgelesenen  erstellten und abgeschriebenen Geschichte geht es darum, daß der Mann mit dem Gelehrtengesicht eine Begegnung auf dem Wiener Westbahnhof beschreibt, die er offensichtlich selbst erlebte, da er die Geschichte in der Art eines Protokolls in der ersten Person Einzahl verfaßte, wobei allerdings, um es auf das Wesentliche zu bringen und es nicht zu lange geraten zu lassen, seine gegen das Protokollarische gerichteten Ausschweifungen weggelassen wurden:

„Da ich bis zur Abfahrt meines Zuges nach Linz noch Zeit hatte, sah ich mich im Bahnhof um. Vor allem interessierte es mich, wie stark die Behinderung des normalen Reiseverkehrs am Wiener Westbahnhof durch die vielen Flüchtlinge ist. Dabei  fiel mir ein Mann auf, der viele Koffer bei sich hatte, anständig angezogen und sauber war, aber sehr müde wirkte. Auch traurig, das spürte ich sofort. Ein Flüchtling, dachte ich. So sehen also Flüchtlinge aus, die vor Krieg und Zerstörung fliehen müssen. Zu so vielen Koffern habe ich es in meinem ganzen langen Arbeitsleben nicht gebracht. Als ein Mann der Feder wollte ich natürlich sofort von ihm erfahren, woher er kommt, warum er geflüchtet ist, ob er meint, Österreich ist das richtige Land für ihn. Es hätte ein Blick gereicht. Ich hätte ihn nichts fragen müssen. Er war in der Stimmung, auf einen Blick hin sein ganzes Leben zu erzählen. Und er erzählte auch sofort: ‚Österreich ist nicht das richtige Land für mich, da haben Sie recht.  Das wollte ich nie einsehen. Bis jetzt. Ich dachte immer, es wird schon. Jetzt habe ich es eingesehen, einsehen müssen. Ich kann es nicht mehr hören. Jetzt, da nur noch von Fremden die Rede ist, von Integration, von Grenzen und Festung gegen die Gefahr der Fremden, die rauben, stehlen, vergewaltigen, ist mir klar geworden, ich kann in Österreich nicht mehr bleiben. In diesem Land, in dem ich geboren wurde, in dem meine Eltern geboren wurde, meine Großeltern, meine Urgroßeltern, meine Familie seit Ewigkeiten, seit es Aufzeichnungen gibt, leben wir hier, lebten wir nie woanders als hier. In Wien, in Wels und ein paar unserer Verwandten in Salzburg. Aber Österreich war immer eine Festung gegen mich. Das sehe ich jetzt ganz klar. Jetzt, da es kein anderes Thema mehr als das Fremde gibt. Als Abwehr von Fremden. Seit ich mich erinnern kann, war Österreich eine Festung gegen mich. Es wurde mir immer abgesprochen, ein Österreicher zu sein. Dabei habe ich einen Namen, auf den allein viele neidisch sein müßten. Für Politik habe ich mich nie interessiert, mich immer herausgehalten, nie etwas gesagt, nichts gelesen. Aber jetzt, wenn ich das höre von der Überfremdung und von Deutsch, dann, dann denke ich mir, die wären heilfroh, wenn sie meinen Namen auf ihre Plakate schreiben könnten und nicht ihre, die wären heilfroh, so einen Stammbaum vorweisen zu können und nicht den ihren. Was wurde mir immer alles unterstellt zu sein, ja, unterstellt, verdächtigt, nicht aus Österreich zu sein. Immer mußte ich mit meinem Reisepaß beweisen, Österreicher zu sein. Das hatte immer nur zur Folge, daß behauptet wurde, deine Eltern sind aber keine Österreicher. Ich habe genug davon. Deshalb gehe ich weg. Beinahe hätte ich jetzt noch meinen Entschluß rückgängig gemacht. Aber ein Gasthaus macht noch kein Österreich für mich. Sie müssen wissen, in meiner Gasse wurde das Gasthaus von Ausländern übernommen, die österreichischen Wirtsleute mußten es wegen Überschuldung verkaufen. Und seit die neuen Besitzer da sind, ist es für mich jetzt so, als dürfte ich endlich wissen, was ein Grätzel ist. Sie grüßen mich auf der Straße mit ‚Servus‘, wir plaudern miteinander. Davor schon ging ich jahrelang zum Essen in dieses von Österreichern betriebene Gasthaus, aber erst durch Übernahme durch die Ausländer kann ich sagen, in diesem Gasthaus wirklich willkommen zu sein. Sie haben natürlich Speisen aus ihrem Land auf der Karte, aber auch, was es bei den Österreichern in all den Jahren nie gab, zum Beispiel Backerbsensuppe. Ich weiß nicht, ich war nie im Ausland, ob es woanders auch Backerbsensuppe gibt, mir kam Backerbsensuppe immer urösterreichisch vor, aber die Österreicher hatten nie Backerbsensuppe auf dem Speiseplan. Wohin ich will? Ich weiß es nicht. Das ist auch egal. Ich weiß nur, fremder als im eigenen Land werde ich nirgendwo auf der Welt mehr sein, wenigstens die letzten Lebensjahre nicht fremd zu sein, ein spätes Glück, das ich erfahren werde dürfen, wenn auch nicht im Land meiner Väter. Auch keinen Gefahren mehr ausgesetzt zu sein. Denn, wenn ich bestohlen wurde, betrogen wurde, und ich wurde betrogen und bestohlen, wenn ich geschlagen und gequält wurde, und ich wurde geschlagen und gequält, dann waren es von Kindheit an immer Österreicher, die zwar Namen hatten, als wären sie Ausländer, aber es waren Österreicher, und nicht einmal, daß sie mich beraubten, daß sie kriminell gegen mich waren, es kam auch vor, daß gar so anständige österreichische Arbeitgeber von mir verlangten, Kriminelles zu tun. Fast hätten mich die ausländischen Wirtsleute davon abgebracht, wegzugehen, für immer aus Österreich wegzugehen, aber ich brauchte nur daran zu denken, wann immer ich in das Gasthaus kommen und mit ‚Servus‘ freundlich vom Wirt begrüßt werde, an einem Tisch Platz nehmen werde, wird wieder eine Österreicherin am Nebentisch sofort ihre Handtasche wieder in Sicherheit bringen, während sie und ihre österreichischen Freundinnen über Tische hinweg Ausländern alles unterstellen werden, das Ausländern unterstellt werden kann, dann weiß ich sofort wieder, wie richtig der Entschluß ist, wegzugehen, vielleicht ein wenig zu spät, vielleicht ein wenig zu feige, weil erst jetzt mit der Sicherheit der Rente. Es war wohl auch Angst dabei, wie fremd werde ich erst in einem fremden Land sein, wenn ich schon im eigenen Land nur fremd bin. Nichts wurde von den Österreichern ausgelassen, was sie mir antun konnten, taten sie mir an, auch, das kann ich Ihnen, jetzt brauche ich das nicht mehr zu verschweigen, ja auch, Sie kennen mich nicht, wir werden einander nie mehr begegnen, also ja, auch das‘ … was er genau noch sagte, konnte ich nicht mehr zur Gänze verstehen, denn in seine Erzählung hinein hörte ich schon die Durchsage, daß mein Zug nach Linz in einer Minute abfahre und so machte mich sofort auf, meinen Zug zu erreichen, während er dennoch einfach weiterredete, und das muß ihn unhöflich, unfreundlich, ihn einfach ohne großen Abschied zu verlassen, aber auch mir war er mit seiner Geschichte nicht freundlich, nicht landsmännisch gesonnen, vorgekommen sein, vielleicht wie eine, während ich mich also immer weiter von ihm entfernte, ohne eines Wortes für seine Lebensbeichte, höre ich noch etwas von Vergewaltigen, letzte Bestätigung für seinen Entschluß, er mag mir dafür nicht attraktiv genug erscheinen, aber für österreichische Männer nicht nur des Gebet zähle bloßes Alter und er sei damals in dem attraktiven Alter, Österreich zu verlassen, beschloß ich, kaum daß ich meinen Platz eigenommen hatte, sofort mit dem Aufschreiben seiner Geschichte zu beginnen. Als der Zug in Linz begann einzufahren, war ich mit seiner Geschichte auch zu einem Ende gekommen.“

In den Tagen und Wochen danach wurden die Zeitungen daraufhin genau durchgesehen, neugierig, ob der Mann mit dem Gelehrtengesicht diese Geschichte von seiner Begegnung am Wiener Westbahnhof doch irgendwo veröffentlichte. Nein. Was von ihm veröffentlicht zu finden war, waren die üblichen Artikel, die für den Parteifunktionär mit dem Blume im Knopfloch die denkbar nützlichsten für den Sprung sein müssen, in seiner Parteistammzeitung, deren Hauptinhalte einzig sind: Überfremdung, Niedergang des christlichen Abendlands, und die von nichts anderem mehr beseelt und angetrieben ist, als von der Straße als Kampfplatz, mit ihren Aufrufen, auf die Straße zu gehen, mit ihren Aufwiegelungen zu handeln, weil das Wählen schon zu wenig ist, der Bürgerkrieg ihre Verheißung, ihre Vorsehung, das Land blutig untergehen zu lassen …