Allahunser

Als ob es je keine Aufklärung gab, könnte ohne Kalender gemeint werden, im 19. Jahrhundert zu leben, in der Zeit von Ernst Ortlepp zu leben, hier in Europa, wie viele Menschen täglich ihre Götter gegeneinander in Stellung bringen, wie die Medien täglich voll der Götterberichte sind, vor dem einen Gott warnend, den anderen Gott verteidigend, und dabei …

Vielleicht ist diesen vielen Menschen nur in der Sprache des 19.Jahrhunderts verständlich zu machen, daß das 19. Jahrhundert schon lange vorüber ist, durch die Verse von Ernst Ortlepp, die hierfür ein paar verändert und nicht alle genommen wurden, aus seinem „Vaterunser des 19. Jahrhunderts“, weil es eben nicht nur um einen Gott geht, sondern um viele Götter, also nicht nur um Allah und Gott, die hier exemplarisch genannt werden, weil eben derzeit es die zwei sind, mit denen hauptsächlich belästigt wird, für die hauptsächlich Medienplatz verschwendet wird.

Vater UnserVielleicht ist den vielen Menschen nur in der Sprache des 19. Jahrhunderts in Erinnerung zu rufen, daß die Götter schon lange tot sind, begraben in den Büchern, wie so viele Figuren der Literatur, von denen heute, im 21. Jahrhundert kein Mensch mehr spricht, die kein Mensch mehr kennt, die viele Menschen nie gekannt haben, Figuren, von denen viele Menschen nie etwas gehört haben, und waren es doch irgendwann Figuren, die für kurze Zeit sogar berühmt waren, aber heute, höchstens noch Sonderlingen etwas sagen, die ihre Leben in den untersten Etagen von verstaubten und modrig riechenden Bibliothekskellern zubringen.

Allahunser

Allen, die gezweifelt und gerungen,
Sei das grause Lied gesungen!
Allah! – Allah? – – Soll ich so dich nennen,
Der du Millionen riefst an’s Licht,
Denen Thränen in den Augen brennen,
Deren Herz der Qualen Dolch zersticht?
Ach, woran soll dich dein Kind erkennen,
Wenn es betet, und du hörst es nicht? –
Und doch ruft der Lebenden Gewimmel:
„Allah unser, der du bist im Himmel!“

Allah! – Ach es dringt so sanft zum Herzen,
Wenn die Lippe lallt den süßen Ton,
Himmelsfriede wird aus Himmelschmerzen, –
„Allah!“ stöhnt auch der verlorne Sohn,
Und in seine Nacht erstrahlen Kerzen,
Hebt er seinen Blick zu deinem Thron.
Eitler Trug! Du bist kein Erbarmer! Alle
Alle täuscht der Name mit dem bloßen Schalle!

Zertretner Völker Geheul ertönt,
Der Welt zerriss’ne Seele stöhnt,
Kaaba und Moschee stehen leer,
Der Donner braus’t dein Lob nicht mehr,
Es rauscht nicht mehr der wallende Sturm,
Dumpf tönt der Muezzin vom Turm,
Gleichgültig summt der Choral an’s Ohr,
Der einst die Seele trug empor;
Und alle Wonnen, die wir sehn,
Sind Rosen, die auf Gräbern stehn.

Der Geist ist wüst, das Herz ist kalt,
Das Lied vom Glauben ist verhallt,
Aus allen Tiefen der Seel’ herauf
Quillt nicht ein Tröpfchen Andacht auf;
Der alten Zeiten Religion
Verachtet der neuen Tage Sohn,
Und höhnisch grins’t die ganze Erde:
„Dein Name nicht geheiligt werde!“

Ward über Sternen je etwas beschlossen,
So war’s gewiß der Mord des Rechts;
Aus Lug und Lastern sollte sprossen
Der Fluch des menschlichen Geschlechts.
Das war der ew’ge Rath; ihn läßt
Das tollgeword’ne höchste Wesen,
Aus manchem großen Opferfest
In der Geschichte Blättern lesen!

Der große Plan von Glück und Licht –
Wo ist die Fabel? Wir finden sie nicht!
Es ist kein Reich, das kommen mag;
Es ist nur Nacht! Es ist kein Tag!
Drum, thörichte Beter, thörichte Fromme,
Betet fortan nicht: „Dein Reich komme!“

Ein Zufall nur erschuf die Welt,
Und hier, wie überm Sternenzelt,
Ist weder Weisheit, Glück noch Heil
Verfluchter Myriaden Theil;
Der Aufschwung nach dem Ideal
Belohnt mit grimmer Qual,
Und jeder Flug nach hohem Ziel
Gebiert ein größ’res Trauerspiel.
Den einzelnen, der sich erhebt,
Zerpeitscht Allah auf jedem Schritt,
Die Völker, die der Geist belebt,
Zerstampft des rohen Gottes Tritt!
Wer soll noch bitten bei all dem Wehe:
„Dein Will’ auf Himmel und Erden geschehe?“

Die Saaten wogen, die Traube winkt,
Es weiden die Heerden im Thal,
Und der Baum mit den goldenen Früchten
Blinkt im lachenden Sonnenstrahl!
Ach, aber umwogt von dem Segensmeer
Hungern die Nationen umher;
Den Erkor’nen gehört der Segen an,
Die anderen haben nicht Theil daran!

So mancher Edle schleicht verlassen
Und weiß vor Pein sich nicht zu fassen,
Für blut’ge Thränen, die er weint,
Ist ringsum jede Brust versteint.
Er betete in tiefer Qual
Vergebens viele tausendmal,
Blickt, weil er nicht mehr beten kann,
Nun sprachlos nur noch himmelan,
Und ringt die Hände verzweiflungsvoll;
Und weiß nicht, was er beginnen soll.

Er hat gethan das Seine treu
Mit jedem Morgen frisch und neu
Und sieht des Wichtes Überfluß,
Indem er trostlos darben muß.
Und laut antwortende Melodei
Gibt Echo seinem Jammerschrei,
Tausenden stimmen Tausende bei:
„Gieb uns nicht unser täglich Brod!
Gieb uns den Tod!“

Schwach und gebrechlich sind wir alle;
Geschrieben stand im ew’gen Buch
Mit Flammenschrift seit Mohammeds Falle,
Beim Namen „Mensch“ der Name „Fluch!“
Verläumdung, Feindschaft, Zorn und Hader,
Entflammen uns zur Allahwut,
Und bis in unsere kleinste Ader
Durchrollt uns ein vergiftet Blut.

Dorten zischt des Neides Allah Tadel,
Hier beschimpfen Schurken Seelenadel,
Einer gönnt dem Andern kaum die Luft,
Nächster dürstet nach des Nächsten Falle,
Bruder zeigt dem Bruder Zahn und Kralle,
Und dem Freunde gräbt der Freund die Gruft.

Und das Vergehn läßt nicht ruhig schlafen,
Auf dem Fuße folgen ihr die Strafen,
Jeder Tag gebiert sein Weltgericht;
Jeder Fehltritt wird ein Wurm dem Herzen,
Jedes Laster Folterbank der Schmerzen;
Die den Körper, die den Geist zersticht.

Wenn wir Leid, Verzweiflung, Tod getragen,
Was erwartet uns in jenen Tagen?
Strafe? – Doppelt? – ha, Tyrannenhuld! –
Wird der Qual genug doch hier gelitten! –
Darum lasset uns nicht länger bitten:
„Ewiger, vergieb uns unsre Schuld!“
Lasset uns auch nicht in diesem Leben
Unsern Schuldigern die Schuld vergeben!

Ha, wieder schneidet an mein Ohr
Ein Mißton grell und dumpf hervor!
Er dringt mit sinnbethörender Macht
So recht herauf aus tiefster Nacht:
„Durchlitten hab’ ich alle Qual,
Durchzählet aller Leiden Zahl,
Durchlaufen aller Schmerzen Pfade,
Gescheitert bin ich an jedem Gestade;
Des Unglücks weites, weites Land,
Es ist mir durch und durch bekannt,
Kein Weg des Elends zieht sich hin,
Den ich nicht schon gegangen bin;
Da steht kein Dorn, der mich nicht stach,
Kein Fels, der meine Kraft nicht brach,
Da zischt kein Gott, dessen Gift
Mein Herz zum erstenmale trifft;
Da ist kein Weh’, kein Fieberbrand,
Den ich nicht zuckend schon bestand!“
Aber im Dunkel dort, welch’ ein Winken?
Haufen von Golde seh’ ich erblinken,
Und den Besitz verleiht mir Gewalt;
Wuth und Verzweiflung, die raschen Götter,
Locken, versprechen, mich reich wie Götter –
Ha, und zum Raub ist die Faust schon gekrallt!“
Die Stimme findet Wiederhall,
Was einer will, das wollen All’.

Hörst du der ergrimmten Völker Ton,
Die, über Vermögen versucht, nun droh’n?
Sie flehten mit hochgehobenen Armen
Zum Himmel jahrelang um Erbarmen;
Jedoch der Himmel ließ sie beten,
Um tiefer nur in den Staub sie zu treten;
Kein Allah will mehr herniederblicken,
Den Allah nur sieht man gräßlich nicken.
Kein Ende seh’n sie ihrer Verfluchung,
Drum beten sie nicht mehr: „Führ’ uns nicht
in Versuchung!“
Auch wird sie Allah von dem Gott
Nimmer – erlösen!
Denn sein ist der Wahnsinn,
Und der Widerspruch in sich selbst,
Und das Herz von Eis,
Und die allmächtige Tyrannei,
Die alle Tyrannen schuf und erhält,
Und die schaffende Zerstörungswut
In ihrer blitzumspielten, donnerumkrachten
Fürchterlichkeit
Von Ewigkeit zu Ewigkeit!
Zuckend wimmern vor seinem Namen
Die Welten ihr: „Amen!“

So sang der Dichter in tiefer Nacht,
Der Himmel war in ihm aufgewacht;
Sein Auge rollte gräßlich umher,
Und kannte die flirrende Welt wie nie mehr;
Vor ihm standen der Wahnsinn und Zweifel,
Im mächtigen Donnergeschmetter,
Kreuzten sich seine zerstückten Gefühle,
In kochendem, gährendem, wildem Gewühle.

Der Dichter sah in die Nacht hinaus,
Und er sah den Tag der Welt – aus
Skeletten mit klappernden Knochen,
Da ward ihm sein Vers
gebrochen,
Wie sie weiter ihr „Vater unser“ sprechen.