Villach, Iraq
Vor zweieinhalb Jahren, im Frühjahr 2014 also, sprengten sich in der irakischen Hauptstadt Bagdad vier Selbstmordattentäter in die Luft. Die Überraschung, mit der die Medien noch am selben Tag aufzuwarten hatten, war aber, dass die vier, alle zwischen Anfang und Mitte zwanzig, aus Deutschland stammten und deutsche Staatsbürger waren. Und mehr noch: Sie waren nicht bloß im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft, sondern hatten sogar deutsche Väter und Mütter, sie waren mithin — einer später erfolgten Klassifizierung nach — „biologische“ Deutsche ohne „Migrationshintergrund“, so die in offiziellen Verlautbarungen und von Experten (oh ja, so viele Experten gibt es heutzutage!) derzeit benutzte Bezeichnung für Kinder von Zuwanderern.
Das war der Zeitpunkt, zu dem eine ganze Reihe von Menschen im Irak von Verwunderung erfasst wurden, unter ihnen auch meine Schwester, die in einem der Außenbezirke von Bagdad wohnt. Wie sollte sie, die drei Kinder hat, von denen das älteste in diesem Jahr an die Universität gekommen ist, und die davon träumt, ihren Kindern ein Studium in Europa zu ermöglichen — wie sollte sie auch verstehen können, dass dieses Europa, das für sie immer ein Leuchtturm des Wissens und der Aufgeklärtheit war, vier junge Selbstmordattentäter losgeschickt hat, um mit ihren Autobomben eine möglichst große Anzahl von Irakern zu töten? Und dies nur aufgrund der schiitischen Glaubensrichtung dieser Menschen?
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Was damals passiert ist, war nur die Ouvertüre zu dem, was schon bald traurige Alltätglichkeit werden würde. Denn seit dem 9. Juni 2014, dem Tag, an dem der IS die Stadt Mossul erobert und etwas errichtet hat, was am 29. Juni fälschlich als Kalifat des „Islamischen Staates“ bezeichnet wird, mit einem ihrer Führer, dem Iraker Ibrahim Awwad Samirani, besser bekannt als Abu Bakr al-Bagdadi, als selbst ernannten Kalifen, ist der Anblick „biologisch“ ausländischer Selbstmordattentäter ein vertrauter geworden. Parallel zur Einwanderung hunderter junger Männer und Frauen aus muslimischen Familien kamen damals dutzende junge Männer und Frauen europäischer Herkunft ins Land, um gegen die „Ungläubigen“ zu kämpfen und diese zu töten, junge Männer und Frauen, von denen enige erst kurz vor ihrer Reise zum Islam gefunden hatten, andere noch nicht einmal genug Zeit gehabt hatten, das fünfmal am Tag zu verrichtende Gebet zu erlernen — eine der fünf Säulen des Islam, deren Befolgung verpflichtend für jeden Muslim ist. Ja, die meisten dieser „internationalen“ Gotteskrieger dürften in ihrem Leben noch nicht einmal in einer Moschee gewesen sein und ihr Wissen über den Islam haben sie nur aus dem Internet bezogen.
In den zwei Jahren, die seit der Eroberung Mossuls durch den IS vergangen sind, ist die Zahl der europäischen Terroristen angewachsen und mit ihr die der Terroranschläge, es scheint ein Wettstreit stattzufinden zwischen den Terroristen islamischer Herkunft und ihren „bio-europäischen“ Kameraden.
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Eines müssen wir erkennen: Wir stehen vor einem Modell, das mit zwei konträren Phänomen aufzuwarten scheint, eine Wanderbewegung aus dem Norden, dem reichen Westeuropa, in die Kriegs- und Krisenregionen, und im Gegenzug eine Abwanderung aus den Krisenregionen, aus dem armen, verwüsteten und perspektivlosen Süden in Richtung Norden, in das reiche Europa. Oder wenn wir die Sprache der Religionen bemühen: eine Migration junger Frauen und Männer, die mehrheitlich christlich erzogen sind — wobei es keine Rolle spielt, ob sie tatsächlich christlicher oder muslimischer Herkunft sind, da in Europa das allgemeine Klima, die Schulen und die tagtäglichen sozialen Kontakte insgesamt christlich geprägt sind –, und auf der anderen Seite eine Abwanderung junger Frauen und Männer, die islamisch erzogen worden sind, wobei es auch hier unerheblich ist, ob es sich um Schiiten aus dem Irak uder Sunniten aus Syrien oder gar Christen oder Angehörige anderer religiöser MInderheiten handelt, da das allgemeine Klima, die Eriehung, die Schule, die Alltagskontakte, alles, was sich außerhalb des häuslichen Umfelds der Familie abspielt, einen islamischen Stempel trägt und sich die jeweiligen Lebenswirklichkeiten voneinander nur der Form nach unterscheiden. Die einen machen sich auf den Weg, um an Krieg und Morden teilzuhaben, und die anderen migrieren auf der Suche nach Arbeit und einem freien, sicheren Zufluchtsort.
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Da mein Interesse in diesem Essay jenen gelten soll, die den Tod produzieren, und nicht jenen, die vor Tod, Hunger und Zerstörung fliehen, werden die nachfolgenden drei Abschnitte versuchen, den Terror selbst und seine mannigfaltigen Gesicher zu erforschen und zu untersuchen, seine Motive und seine Forderungen. Oder mit einem Wort: Wir werden eine Reise in den Kopf des Terrors unternehmen, sofern dieser Terror denn einen solchen hat, und dies gleichermaßen in der Literatur wie im wirklichen Leben.
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Richtig ist, dass der Terror stets ein einziges Ergebnis zeitigt: den Tod. Doch es wäre falsch zu denken, dass wir eine Deutung des Terrors liefern könnten, ohne auf seine vielfältigen Gesicher zu sprechen zu kommen, auf seine verschiedenen Wesenszüge. Denn der Terror ist so alt wie die Menschheit, so vielfältig wie der Mensch und die Orte, an denen er lebt, und seine Gleichsetzung mit einer einzigen Seite, sei es dem Islam, dem Christentum oder dem Judentum, ist bloß eine Maske der Berichterstattung über den jeweils konkreten Terrorakt.
[…] „Erzähl nie nur eine Geschichte“, sonst kentert das Kanu“, lautet eine alte Indianerweisheit, überliefert von dem amerikanischen Schriftsteller und Weltenbürger Ernest Hemmingway […]
Wir hören von einem Terroranschlag und glauben, dies sei ein Ereignis, das uns zutiefst überraschen müsste, wir suchen nach einer Erklärung dafür, ohne daran zu denken, dass das, was sich soeben ereignet hat, nicht neu ist. Wir sehen das jetzige, sichtbare Gesicht des Terrors und wolle nicht in den Spiegel schauen, wollen nicht wissen, dass der Terror so alt wie der Mensch ist, dass er überall zu finden ist, dass seine Viren in der Luft schweben und es nur eine Frage der Zeit ist, bis er uns erreicht, uns treffen muss, da er uns umgibt wie unsere Atemluft. Und wenn wir den Kopf in den Sand stecken oder all jenen glauben, die nicht einen Tag ohne Geschrei auskommen — ich meine jenes Heer von Politikern und Experten, jene Könige des Pöbels und des Hasses, bei denen jedes Wort, das über ihre Lippen kommt, ein Samenkorn des Gifts ist –, dann erkennen wir nicht, dass die vergiftete Gefühllosigkeit, mit der sie ihre Parolen verbreiten, eine Ergänzung eben jenes Terrors ist, der wie ein Gespenst durch die Welt zieht und an unsere Türen klopft.
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Andere wieder beruhigen sich, indem sie sagen, solange der Terror deutlich sichtbar ist und ein bekanntes Gesicht trägt — unserer Tage das des Islam –, muss man sich mit anderen Geschichten nicht befassen, sondern kann sich mit einer Geschichte begnügen.
Doch wir müssen uns an die alte Weisheit erinnern […] damit das Boot in uns nicht kentert. Denn im Versuch, von unserer Welt auch nur ein Bisschen zu retten, soll hier mehr als nur eine Geschichte des Terrors erzählt werden.

„Erzähl nie nur eine Geschichte, sonst kentert das Kanu.“

Allein diese „Weisheit“ wie eine Anleitung zum Umgang mit jedweder Geschichte und mehr noch zum Handeln für das Heute aus „Im Kopf des Terrors – Vom Töten mit und ohne Gott“ von Najem Wali wäre des Erzählens Genüge getan. Es muß nichts dazu erzählt werden, Najem Wali erzählt genügend, und eben nicht nur eine Geschichte, an dessen Buch erinnert wurde, als von Villach, …
Als es am 18. November 2015, fünf Tage nach den Anschlägen von Paris und gleich nach der Verlautbarung der französischen Behörden, hieß, der mutmaßliche Drahtzieher der Anschläge, ein Belgier mit marokkanischen Wurzeln, sei bei den Polizeirazzien im Pariser Vorort Saint-Denis geötet worden, fühlte ich mich stark an Herostrat erinnert. Doch nicht in erster Linie an den altgriechischen Brandstifter Herostratos, der im vierten Jahrhundert vor Christi lebte und durch die Zerstörung des Tempels von Ephesos, einer der sieben Weltwunder der Antike, zu unsterblicher Berühmtheit gelangen wollte, sondern ich musste unwillkürlich an jene Erzählung gleichen Titels des französischen Existenzialisten Jean-Paul Sartre denken […] handelt von Paul Hilbert, einem kleinen, unverheirateten Angestellten, der in einer Handelsfirma arbeitet und allein in einer Pariser Wohnung im 6. Stock […] Und genau an diesem Tag kommt Hilbert die Idee, auf die Straße zu gehen und wahllos auf Menschen zu schießen. […] Doch die Explosion wird nciht aus der Waffe kommen, sondern aus ihm — Paul Hilbert — selbst. Dieses neue Gefühl, das von ihm Besitz ergriffen hat, sagt ihm, dass er selbst „der Rasse der Revolver, der Granaten und Bomben“ angehört. „Ich selbst würde eines Tages, am Ende meines dunklen Lebens, explodieren und die Welt wie ein Magnesiumblitz mit einer heftigen und kurzen Flamme erhellen.“ […]
Die freie Zeit, die seine Beschäftigungslosigkeit ihm beschert, nutzt er, um einen Brief zu entwerfen, vom dem er hundertzwei Kopien anfertigt, die er an berühmte Autoren schickt, um sie darüber zu informieren, was er vorhat: „Sicher sind sie neugierig, nehme ich an, zu erfahren, wie ein Mensch so aussieht, der die Menschen nicht liebt. Nun — so einer bin ich, und ich liebe sie so wenig, dass ich sogleich ein halbes Dutzend von ihnen töten werde. Vielleicht werden Sie sich fragen: warum nur ein halbes Dutzend? Mein Revolver fasst nur sechds Patronen.“ Und auf die Frage, warum er dies tun wolle, antwortet Paul Hilbert, er könne die Menschen einfach nicht lieben. Und er hoffe, die anderen würden ihn verstehen, dennn schließlich habe er alles unternommen, um die Menschen zu lieben, sei aber in seinem Bemühen gescheitert. Die Zeitspanne, die ihm nohc bis zur Umsetzung seines Vorhabens bleibe, betrage nur mehr einen einzigen Tag, denn schon in den morgigen Zeitungen werde man lesen können, „dass ein gewisser Paul Hilbert in einem Tobsuchtsanfall fünf Passanten auf dem Boulevard Edgar-Quinet niedergeschossen hat“.
[…]
Nicht von ungefähr lässt Sartre seinen Helden in dem Bekennerschreiben, das er in hundertzwei Kopien an berühmte Autoren schickt, auf die Frage nach dem Motiv, die sich jedem stellen muss, der diesen Brief liest, antworten: „Eine Ungeheuerlichkeit, nicht wahr? Und zu alldem ein völlig unpolitischer Akt? Aber ich sage Ihnen, dass ich sie [die Menschen] nicht lieben kann. Ich verstehe Ihre Gefühle sehr gut. Aber das, was Sie an ihnen anzieht, ekelt mich an.“ Um dies noch deutlicher zu machen und um besser verstanden zu werden, liefert Hilbert ein Bild, einem Beleg für seinen Ekel vor den Menschen: „Wie Sie habe ich Menschen bedächtig und gleichgültig kauen sehen, indem sie gleichzeitig mit der linken Hand in einer Börsenzeitschrift blätterten.“ Und das lässt Sartre seinen Helden im Jahr 1939 sagen. Interessant wäre zu erfahren, was Paul Hilbert über die heutige Welt der Börse sagen würde, die es zum Beispiel in Deutschland geschafft hat, Einzug in alle Privathaushalte zu halten, indem sie sich satte fünf Minuten unmittelbar vor der Hauptnachrichtensendung um acht Uhr abends auf dem ersten Kanal des öffentlich-rechtlichen Fernsehens gesichert hat. […]
Paul Hilbert auf jeden Fall ist bemüht, sein Verbrechen zu erklären, es von allem Politischen freizusprechen. Sein Brief unterscheidet sich nicht von jenen Kommuniqués, die wir zu sehen bekommen, nachdem Selbstmordattentäter ihre Taten verübt haben. Wobei es bedeutungslos ist, dass einige dieser „erklärenden Verlautbarungen“ in Form von Abschiedsvideos daherkommen, in denen ihre Urheber sich bemühen zu erklären, was sie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Videos bereits begangen haben. Dabei suchen sie zumeist bei religiösen Floskeln Zuflucht, bei Koranversen im Fall der islamischen Selbstmordattentäter, von denen die allermeisten den Sinn des Zitierten nicht einmal verstehen und es lediglich nachplappern wie Papagaien. Aus diesem Grund ist es auch falsch, sie als „radikale Islamisten“ zu etikettieren. Denn was diese Menschen in Wahrheit tun, ist, ihrem eigenen Nihilismus eine islamische Bedeutung zu verleihen. Es sind „islamische Nihilisten“ und keine „nihilistischen Islamisten“, ja, sie müssen als „muslimische Mörder“ und nicht als „mörderische Muslime“ bezeichnet werden. (Ähnlich werden Amerikaner oder auch Deutsche, die ein Blutbad anrichten, gern als „Amokläufer“ bezeichnet. Und ist es tatsächlich notwendig, die zumeist rassistische Begründung ihrer Tat zu erfahren? Einer Tat, bei der es sich zumeist nicht um eine „Einzeltat“ handelt, die Ausdruck einer seelischen Störung oder Geisteskrankheit wäre, wie uns die offiziellen Verlautbarungen in der Regel weismachen wollen.)

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