„Never tell just one story or the canoe will capsize“

Villach, Syrien

All dies ereignete sich vor über zweihundert Jahren und geschieht in noch abscheulicherer und hässlilcherer Form bis heute, und zwar begleitet vom Schweigen des Westens, um nicht zu sagen, mit dem devoten Einverständnis des Westens, welcher der Familie Al Sa’ud freie Hand lässt, nach eigenem Gutdünken zu herrschen. Denn wir sollten nicht vergessen, dass dieses Königreich der Finsternis bis heute fest auf seinem Thron sitzt, vor allem dank der Engländer, die Abd al-Aziz ibn Sa’ud als Gegenleistung für seine Unterstützung gegen die Osmanen im Ersten Weltkrieg dabei behilflich waren, den Hedschas einzunehmen, der höher entwickelt war als der Nadschd und sich vergeblich gegen den Vormarsch der islamisierten Beduinen unter Führung Ibn Sa’ud mit tätiger britischer Unterstützung 1932 schließlich zum König über fast die gesamte arabische Halbinsel und konnte sich obendrein noch mit dem Titel „Hüter der beiden heiligen Stätten“ Mekka und Medina schmücken. Seither hat sich das saudische Königreich nur noch weiter ausgedehnt, hat aggressiv expandiert und gemordet, lässt Köpfe abschlagen, wann immer und wo immer es ihm gefällt. Dies muss immer wieder betont werden, wenn es um den heutigen Terror und um sein Verhältnis zum saudischen Königreich geht.

Und ebenso unumgänglich ist es, die Vorzeichen zu erkennen: Die mit Petrodollars gefütterte wahhabitische Katastrophe wird sich für alle noch zum Sturm auswachsen. Wer im Westen glaubt, er müsse nichts unternehmen, um ihr entgegenzutreten, wer meint, immer noch in Sicherheit vor ihr zu sein, erinnert an den Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt. Es lassen sich wohl keine klareren Worte finden als jene des verfolgten Schriftstellers Salman Rushdie. Als man ihn nach den Gründen für das Aufkommen des radikalen Islams in der Welt fragte, antwortete der Autor des Romans Mitternachtskinder unlängst: „Kurz gesagt: Öl.“

Najem Wali erzählt in seinem Buch „Im Kopf des Terrors – Vom Töten mit und ohne Gott“ mehr als eine Geschichte, er erzählt auch die vom „spanischen Bürgerkrieg“, auch die von der „Fremdenlegion“, auch die von der „französischen Revolution“, die vom „Terror in seiner pragmatischen Form, oder: Der Staat als Schirmherr der Bigotterie und Pate des Mordens“, die vom „Töten aus persönlichen Gründen oder aus Überzeugung?“, die „Ohne politische Motive? Ohne religiöse Beweggründe? Aber was ist mit dem Fanatismus? Und mit dem heiligen Krieg?“, die vom „Töten als Gewerbe“, die „Über das Morden ohne Gott, oder: Wenn es Gott nicht gäbe, wäre alles erlaubt“, die vom „Zurück zu den Ursprüngen des Terrors: westwärts und ostwärts“, die alle eines gemein haben, das Morden, den Terror, der verurteilt wird, und den Terror, der freigesprochen wird, mehr, den Terror, der niemals angeklagt wird, den Terror, dem Akzeptanz und Ehre zuteil wird.

Und angesichts des offenbaren Unverständnisses des Journalisten fügte Rushdie erklärend hinzu: „Die Saudis folgen dem Wahhabi-Kult. Niemand in der islamischen Welt interessierte sich für diese kleine Splittergruppe. Aber die Saudis haben mit dem Ölgeld sehr gezielt den Wahhabismus in der islamischen Welt propagiert. Damit begann der große Ärger und Konflikt.“ Als der Interviewer nachfragte, ob die Erklärung tatsächlich so einfach sei, erläuterte Rushdie weiter: „Es war das Geld der Saudis, mit dem die Koranschulen finanziert wurden, in denen die Taliban an der Grenze zu Pakistan und Afghanistan ausgebildet wurden. Mullahs wurden mit dem Geld der Saudis trainiert, um den sehr strikten Islam in der ganzen Welt zu verbreiten.“ Auf die Frage, wie das denn konkret ausgesehen habe, liefert Rushdie ein persönliches Beispiel: „Meine Familie stammt aus Kaschmir. Dort war die vorherrschende Religion der Sufi-Islam, eine milde, offene Form des Islam. Es gab alle möglichen Überlappungen zwischen Islam und Hinduismus. Überall standen kleine Schreine, in denen Sufi-Heilige verehrt wurden. Der Islam ist eine monotheistische Religion, aber trotzdem wurden Heilige verehrt. Sogar Lastwarenfahrer, die Hindus sind, hielten an und legten ihre Opergaben dort ab. Es gab keine Konflikte. Heute erlebt die Region eine ‚Arabisierung‘. Früher sagte man zum Abschied: ‚Gott sei mit dir!‘. Es konnte also jeder Gott gemeint sein. Heute sagt man ‚Allah sei mit dir!‘ Es gibt nur noch einen Gott, keinen anderen.“

Interessant zu erfahren wäre, was Salman Rushdie wohl sagen würde, wüsste er, dass die gezielte wahhabitische Propaganda und ihre fetten Verheißungen einen Dichter wie den Syrer Adonis umgarnt haben — von dem bis dahin angenommen wurde, es handle sich um einen gereiften, modernen Lyriker — und ihn bewegen konnten, zusammen mit seiner Frau ein Buch über Scheich Ibn Abd al-Wahhab zu schreiben, den Gründer dieses erzreaktionären, doktrinären Islam. Das ist umso dramatischer angesichts der Tatsache, dass Adonis dies nicht etwa in jugendlichem Überschwang tat — wie damals, als er im Alter von 19 bis 24 Jahren Mitglied in der Syrischen Sozial-Nationalsozialistischen Partei (SSNP) war, einer extrem nationalistischen Partei, die in ihrer Organisationsform und Ideologie den faschistischen europäischen Parteien der dreißiger Jahre entsprach und deren bis heute verwendetes Symbol dem nationalsozialistischen Hakenkreuz nachempfunden ist. Nein, als er 1983 sein Buch über den Gründer der wahhabitischen Bewegung schrieb, war Adonis bereits dreiundfünfzig, in einem Alter mithin, in dem er schon reichlich Erkenntnisse gesammelt und Erfahrungen gemacht hatte, persönliche wie allgemein menschliche, sodass man eigentlich hätte erwarten können, er würde in allem, was er sagte oder schrieb, mehr Verantwortungsbewusstsein an den Tag lebwen. Diwan der Erneuerung des Scheichs Ibn Abd al-Wahhab, so lautet der Titel des Buches, dessen Ziel, wie es im Vorwort heißt, „eine Bestandsaufnahme der geistigen und literariaschen Erträge des Ibn Abd al-Wahhab und ihre Darstellung unter neuem Blickwinkel und in neuer Bewertung … usw., usw.“ sei. In diesem Werk wird sogar die Einschätzung vertreten, der Gründer des Wahhabismus sei Teil der arabischen Nahda-Bewegung gewesen, welche die Grundwerte des Islam mit der Moderne zu verbinden suchte. Und so fragt man sich erstaunt, wie Adonis den salafistischen, rückwärtsgewandten Imam Muhammad ibn Abd Al-Wahhab zu diesen reformatorischen Neuerern zählen kannn, da es doch eben dieser Mann war, der die Musik verbot, der die Verschleierung von Frauen verordnete und ihre Steinigung erlaubte, der unzählige positive Rechtsgutachten zu reaktionären Praktiken erließ. Oder sollten Dinge wie Rückschrittlichkeit und Morden ein Synonym für Erneuerung und Modernisierung geworden sein? (Und um unser Erstaunen vollständig zu machen, sei daran erinnert, dass dieser „zeitgenössische“ Dichter im Jahr 2015 den Erich-Maria-Remarque-Preis der Stadt Osnabrück verliehen bekommen hat, wie es heißt „für sein Eintreten für eine Trennung von Religion und Staaat“, ungeachtet der Tatsache, dass seine Elogen auf einen salafistischen Scheich gegen jeden Staat und jede Religion gerichtet sind!) Aber warum dieses Erstaunen, da uns Salman Rushdie doch berichtet, das saudische Geld habe es sogar bis nach Kaschmir geschafft?
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Die Propagandamaschine des Wahhabismus weiß dies nur zu genau, sie konzentriert seit Jahrzehnten ihre Aktivitäten auf eben solche jungen Männer, weiß, wo solche Anfälligkeit gedeiht, in den Untiefen eben dieser sozialen Verwüstung. Und dank der saudischen Petrodollars und mit Unterstützung des Westens, auf die man zählen kann, verbreitet der Wahhabismus frei und ungehindert seine gefährlichen Pestilenzen, errichtet an jedem Ort auf der Welt, an dem er will, prachtvolle Moscheen, vollkommen unverhohen finanziert mit saudischem Geld, in allen europäischen Metropolen, in Hamburg, Antwerpen und Brüssel, in Paris und Madrid, London, Bonn und anderswo, zumeist in den Außenbezirken wie etwa im Brüsseler „Problemviertel“ Molenbeek. In diesen saudischen Moscheen predigen junge Imame, die in Saudi-Arabien ausgebildet worden und auf die Gehirnwäsche der Gläubigen spezialisiert sind, sie pflanzen deren Verstand den vergifteten salafistischen Samen ein, und dies alles unter den Augen und Ohren der Behörden vor Ort. Und wenn wir noch einen Augenblick in Belgien verweilen, sollte man wissen, dass saudisches Geld inzwischen die Hälfte der Anteile am Hafen von Antwerpen hält, und dies, obgleich eine Koalition unter Führung der „Neuen Flämischen Allianz“, einer stramm rechts-nationalistischen Partei, die dortigen Stadtgeschäfte führt. Doch diese Partei mag zwar an der Macht sien, aber was wirklich regiert, ist das Geld, denn Geld ist erst einmal nur Geld, auch wenn es sich um saudisch-wahhabitisches Geld handelt. Wer das bestreitet, der verleugnet, wie der rückwärtsgewandte Wahhabismus in Europa mit tätiger Mithilfe der Behörden sein Unwesen treibt.

Wie wir gesehen haben, hat sich sogar der syrische Dichter Adonis im reifen Alter von dreiundfünfzig JAhren von der wahhabitischen Propagandamaschine einspannen lassen und ein Buch über Scheich Muhammad ibn Abd Al-Wahhab verfasst, in dem er diesen als reformatorischen Denker und einen der Vorreiter der arabischen Renaissance beschreibt. Man sollte allerdings wissen, dass Adonis‘ Buch auf dem Höhepunkt des saudischen Feldzugs erschien, den die as-Sahwat, eine einflussreiche Gruppe islamischer Gelehrter, zur Unterstützung der Aufständischen in Afghanistan zur Bewaffnung der sogenannten afghanischen Araber initiiert hat. Wenn dem so ist, wie sollen dann ungebildete junge Männer, von denen die Mehrzahl kaum mehr als die Grundschule besucht hat, wie sollen diese „Versager“, die am Rande der Gesellschaft leben oder mit dieser im Konflikt liegen, junge Männer, die Gefangene der eigenen Triebe sind, wie sollen sie nicht in die Falle der wahhabitischen, rückwärtsgewandten Propaganda gehen, zumal diese Falle fett bestückt ist? Tausende solcher jungen Männer ohne Erfahrung, solcher resignierten „Desperados“, haben sich verführen lassen von der wahhabitischen Idee eines Dschihad im Namen Allahs gegen […]