Tic Tac Tic Toc Tic Tac

Villach

[…] wie konnten Sie sich in einen so schamlosen, unbegabten Lakaienunsinn verlieren? Sie ein Mitglied ihrer Vereinigung! Ist das die Heldentat […]

Dieser Ennui ist es, der den Sohn einer aristokratischen Familie in die Arme des Terors treibt, so wie er in Europa andere junge Menschen aus wohlhabenden Familien in Terrorgruppen hat aktiv werden lassen, auch wenn sie dort nicht zur absoluten Führungsebene gehört haben mögen. Die Rote Armee Fraktion, die den Herbst des Jahres 1977 in Deutschland durch Flugzeugentführungen und politische Mordanschläge zu einem „heißen“ gemacht hat, ist ein gutes Beispiel hierfür. Als seien Terror und Verbrechen, als sei Morden die Antwort auf dieses „aristokratische“ Gefühl von Langeweile. Die fünf berühmten Führungsfiguren der RAF […] kamen allesamt aus gutsituierten Familien, was uns nachdrücklich an Dostojeweskis Anarchisten denken lässt, jene Nihilisten, die eine romantische Vorstellung von der Revolution teilen, die aber keine Schwierigkeiten haben, sich bei der Umsetzung ihrer Vision in die Tat die Hände blutig zu machen, ja nicht einmal, dabei das Blut von Kindern zu vergießen. Heute weiß ich, dass die Geschichte in Deutschland tatsächlich einige Ähnlichkeit mit Stawrogins Aussagen hatte, und gleichzeitig weiß ich, dass sie auch ganz andes gelesen werden kann, da — wenn wir uns die Worte des alten Professors Pohlmann aus Erich Maria Remarques Roman Zeit zu leben und Zeit zu sterben zu eigen machen — die Frage, wer nun Henker und wer Opfer ist, und wo das eine beginnt und das andere aufhört, nicht letztgültig beantwortet werden kann.

Denn es steht fest, dass jene deutschen Terroristen, die sich im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim im „deutschen Herbst“ des Jahres 1977 das Leben nahmen […], genau wie etlcihe ihrer Nachfolger und Erben, mehrheitlich aus gläubigen protestantischen Familien kamen (mit Ausnahme von Andreas Bader, der aus einer katholischen Münchner Familie stammte). Ja, einige ihrer Väter waren sogar Pastoren, ein Umstand, dem vieles anzulasten ist, denn vielleicht waren sie der Moralpredigten überdrüssig, mit denen ihre Eltern sie überzogen hatten, vielleicht wollten sie die andere Seite der Medaille sehen, das Scheitern der Familien bei ihrer Erziehung aufdecken usw… Und andererseits war der von der RAF entführte und ermorderte Arbeitgeberpräsident und Vorsitzende des Bundesverbands der Deutschen Industrie Hanns Martin Schleyer ein „gläubiger“ Katholik, geboren am 1. März 1915 im süddeutschen Offenburg, einer Stadt, in der Jahrhunderte lang die Gewährung des Bürgerrechts an die katholische Konfession gebunden war und in der bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine Nicht-Katholiken lebten. Nach seiner Ermordung wurde zudem bekannt, dass Schleyer eine nicht eben gewöhnliche Nazivergangenheit gehabt und in der für ihre Grausamkeit und Verbrechen bekannten SS den Rang eines Untersturmführers bekleidet hatte. Auch war zu erfahren, dass er bereits 1935 als Student unter Protest aus seinem Corps ausgetreten war, dem er „mangelnde nationalsozialistische Gesinnung“ vorwarf, da die Verbindung jüdische Alt-Herren nicht ausschloss, sich also nach Auffassung des jungen Schleyer nicht antisemitisch genug zeigte. Revolutionäre gegen Nazis, Protestanten gegen Katholiken – und überall ein großes Morden!

Er radikalisiert sich, wie es heute heißt, in seinen jungen Jahren, gerade einmal zwanzig ist er, im Alter also von dem Mörder in Villach, und sein ganzer Stolz seine erste Firmungstaschenuhr, die er jahrelang wieder und wieder, sooft er nur kann, an sein Ohr hält … Wie lange wird er gebraucht haben, um sich zu radikalisieren? Madige, wie es jetzt vom Mörder in Villach gesagt wird, drei Monate?

Macht die Radikalisierungsuhr nicht von seiner Geburt an Tick-Tack-Tick-Tock-Tick-Tack-Tick-Tock, bis sie schließlich auch ihn erwachen heißt?

Die Radikalisierungsuhr einer radikalisierten Gesellschaft ihm läutet zum Aufstehen und zum Einreihen in den „schamlosen Lakaienunsinn“