Maggie

Roberta sei die Schwarze, das hätte sofort ein jeder Mensch, der 1983 „Recitatif“ auf der zweiten Seite aufgeschlagen und das

Von Zeit zu Zeit hörte sie nämlich gerade so lang mit dem Tanzen auf, um mir was Wichtiges zu erklären, und unter anderem hat sie mir erklärt, dass die sich nie die Haare waschen und komisch riechen. Wie Roberta. Also, sie roch wirklich komisch. Und darum habe ich, als das Riesenross (kein Mensch redete je von „Mrs. Itkin“, so wie auch kein Mensch je von „St. Bonaventure“ redete) — als es also sagte: „Twyla, das ist Roberta. Roberta, das ist Twyla. Seit nett zueinander“, da habe ich gesagt: „Das wird meiner Mutter aber gar nicht gefallen, dass Sie mich hier unterbringen.“ „Gut“, sagte das Riesenross. „Vielleicht holt sie dich dann ja wieder nach Hause.“ So eine Gemeinheit! Wenn Roberta gelacht hätte, ich hätte sie umgebracht, aber sie lachte nicht.

gelesen hätte, vor vierzig Jahren, in Österreich,

und wohl nicht nur in Österreich, hätte in vollkommener Überzeugng sofort zu sagen gewußt, daß Roberta die Schwarze und Twyla die Weiße — So verbreitet, wie das damals war, vor vierzig Jahren, daß Schwarze „komisch riechen“, und dies war ganz und gar nicht ein Kompliment, Schwarze wurden auch nicht Schwarze genannt, das weithin geläufige Brandmal war „Neger“. „Neger“ war der als normal befundene Begriff, die Norm. „Neger riechen komisch.“

Oder, noch deutlicher, unmißverständlicher rassistisch in einer durch und durch rassifizierten — „Neger riechen schlecht.“

Auf eine Kritik, wie diese vierzig Jahre später in einer deutschsprachigen Zeitung zu lesen ist,

Aber nicht einmal als Roberta dagegen demonstriert, dass ihr Sohn auf eine andere Schule soll – und Twyla das Problem überhaupt nicht versteht –, lässt sich sagen, ob Roberta eine schwarze oder weiße Bürgerrechtlerin und ob Twyla eine schwarze oder weiße Ignorantin ist.

und darauf, was Zadie Smith im langen Nachwort zu „Rezitativ“ schreibt,

Wie genau wir aber auch lesen, wir erfahren nie definitiv, welches der beiden Mädchen schwarz ist und welches weiß.

hätten Menschen vierzig Jahre zuvor, nicht nur in Österreich, gesagt, das lässt sich so doch leicht sagen, daß Twyla die Weiße und Roberta die Schwarze —

Sogar vierzig Jahre später lassen sich im Internet Eintragungen finden, die nicht vor vierzig Jahren geschrieben wurden, sondern in der Gegenwart, daß „Neger riechen […]“. Nicht nur, zum Beispiel, von einem „König“, der sich als „Patriot, Nationalist“ vorstellt, sondern auch, ein weiteres Beispiel, von einem „Basti“, der „Journalist, Dozent, Social-Media-Koordinator“ … Auf einer Frage-Antwort-Plattform, ein weiteres Beispiel, mit der Eigenbeschreibung

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wird die Frage gestellt „Warum riechen dunkelhäutige anders?“ — Als wäre es eine „gute Frage“, auf die es gute Antworten … „dunkelhäutige“, ja, tatsächlich kleingeschrieben, so hat diese „gutefrage“ die Qualität von „Neger […]“

Es ist im Grunde völlig belanglos, ob nun Twyla die Schwarze und Roberta die Weiße oder Roberta die Weiße und Twyla die Schwarze. Es gibt in dieser Erzählung tatsächlich eine Frau, von der nicht gesagt werden kann, ob sie weiß ist, ob sie schwarz ist — Maggie.

Einmal ist Maggie dort gestürzt. Die Küchenhilfe mit den Beinen wie Klammer auf, Klammer zu. Und die großen Mädchen haben sie ausgelacht. Ich weiß schon, wir hätten ihr aufhelfen sollen, aber wir [Twyla und Roberta] hatten Angst vor diesen Mädchen mit ihrem Lippenstift und Kajalstrich. Maggie konnte nicht sprechen. Die anderen Kinder behaupteten, ihr wäre die Zunge rausgeschnitten worden, aber ich glaube, sie war einfach so auf die Welt gekommen: stumm. Sie war alt, hatte eine Haut wie Sand und arbeitete in der Küche. Was weiß ich, ob sie nett war. Ich erinnere mich nur an ihre Beine wie Klammer auf, Klammer zu und dass sie beim Gehen wackelte. Sie arbeitete von morgens früh bis zwei, und wenn sie mal spät dran war, weil sie viel sauber zu machen hatte, und erst gegen Viertel nach zwei wegkam, nahm sie die Abkürzung durch den Obstgarten, um den Bus nicht zu verpassen und eine Stunde auf den nächsten warten zu müssen. Sie trug eine richtig blöde Mütze — so eine Kindermütze mit Ohrenklappen –, und sie war nicht viel größer als wir. Eine richtig scheußliche Mütze. Wirklich blöd, sogar für eine Stumme — rumzulaufen wie ein kleines Kind und keinen Ton zu sagen. „Und wast ist, wenn jemand sie umbringen will?“ Das fragte ich mich damals oft. „Oder wenn sie weinen muss? Kann sie weinen?“ „Klar“, sagte Roberta. „Aber nur Tränen. Töne kommen keine.“ „Sie kann also nicht schreien?“ „Nein. Gar nicht.“ „Kann sie was hören?“ „Glaub schon.“ „Rufen wir sie mal“, sagte ich. Und das taten wir. „Trampel! Trampel!“ Sie wandte nicht mal den Kopf. „O-Bein! O-Bein!“ Gar nichts. Sie wackelte einfach weiter, und die Kinnriemen ihrer Babymütze baumelten hin und her. Ich glaube, wir lagen falsch. Ich glaube, sie hat uns gehört und sich bloß nichts anmerken lassen. Bis heute schäme ich mich, wenn ich mir vorstelle, dass dadrinnnen doch jemand war, unsere Schimpfwörter hörte, und uns nicht verpetzen konnte.“

Um Maggies Willen, um der „Verdammten“ willen, der „Niemanden“ willen, deren Farben nicht gesehen, nicht erinnert werden, ist „Rezitativ zu lesen —

Weit unterhalb der rassifizierten „Schwarz-Weiß-Unruhen“ in den USA hält sich eine weltweitere Unterschicht aus lauter Maggies, die von den engstirnigen amerikanischen Debatten weder gesehen noch bedacht wird, die Verdammten dieser Erde

Morrison ist die große Meisterin amerikanischer Komplexität, und wenn Sie mich fragen, steht Rezitativ in einer Reihe mit Bartleby, der Schreiber und Shirley Jacksons Erzählung Die Lotterie als die perfekte — und perfekt amerikanische — Story, die jedes Kind in den USA lesen sollte.

Zu Zadie Smith darf hinzugefügt werden, die jedes Kind und jeder Erwachsener auch außerhalb der USA, die jede Erwachsene weltweit, also auch in Österreich, …