Faktenwarnung

In der ZIB 2 des österreichischen Rundfunks am 17. März ’21:

Martin Thür: Herr Bundeskanzler, bevor wir zur Problemlösung kommen, beginnen wir vielleicht mit letzter Woche. Sie sagen, sie hätten erst jetzt, Mitte März, mehr zufällig entdeckt, daß Österreich proportional weniger Impfstoff als andere Länder geliefert bekommt. Wie kann es sein, daß Ihre Regierung über einen der wohl wichtigsten Faktoren in der Pandemiebekämpfung offensichtlich monatelang nicht Bescheid wußte.

Sebastian Kurz: Ich glaub, der Journalist aus Dänemark, der in Ihrem Beitrag interviewt worden ist, hat das sehr gut auf den Punkt gebracht. Er hat gesagt, das war eine Blackbox, dieses Gremium, und es war nicht nur für Journalisten schwierig, Informationen zu bekommen, sondern auch die Masse der Regierungschefs war nicht informiert. Ich habe letzte Woche mit fünfzehn Amtskollegen telefoniert und ich kann Ihnen nur sagen, fast alle sind aus allen Wolken gefallen, weil sie nicht gewußt haben, daß in einem Beamtengremium von Gesundheitsbeamten das widerlegt wurde […]

Martin Kaae, der Journalist aus Dänemark, in dem kurz vor dem Interview mit dem zurzeitigen Bundeskanzler, auf den er sich bezieht, gesendeten Beitrag sagt:

Martin Kaae: Dänemark hat einfach die Chance genutzt, Impfstoffe zu kaufen, die andere Länder, vor allem Bulgarien, aus Kostengründen nicht wollten. Das war ein ganz normales bekanntes Procedere. Deshalb sind wir beim Impfen schon viel weiter als andere. Was schon stimmt, dieses Steuerungssystem ist gerade für uns Journalisten sehr undurchsichtig, weil vieles geheim bleiben muß. Aber aus politischer Sicht stimmt sich der dänische Vertreter in diesem Gremium eng ab mit unserer Regierung. Im Fall von Dänemark arbeiten sie wie ein Team.

Beispielhaft führt der zurzeitige Bundeskanzler in Österreich in diesem Interview also vor, wie Verschwörungstheoretiker agieren. Verschwörungstheoretikerinnen ziehen aus dem, was gesagt wird, ein Wort heraus, wie im konkreten Fall der zurzeitige Bundeskanzler das Wort „Blackbox“, und zimmern sich daraus ihre Welt.

Kennzeichnend für Verschwörungstheoretikerinnen ist ebenfalls, daß sie es sind, sie die einzigen sind, die etwas aufdecken. Auch der zurzeitige Bundeskanzler sieht sich als Aufdecker.

Sebastian Kurz: Wir haben dieses Thema am Freitag aufgedeckt.

Weiter kennzeichnend ist für Verschwörungstheoretiker, daß sie nichts gelten lassen, was ihren Vorstellungen widerspricht. Martin Thür bringt in diesem Interview zu Recht sehr viel vor, was den Vorstellungen des zurzeitigen Bundeskanzlers in Österreich widerspricht, aber ein Verschwörungstheoretiker bleibt beharrlich in seiner Welt. Kennzeichnend auch für Verschwörungstheoretikerinnen ist, sie können sich nicht vorstellen, daß irgendwer etwas glauben kann, das sie selbst nicht glauben. Verschwörungstheoretiker können auch sehr generös sein, aber nur wenn ihnen andere glaubhaft versichern, das nicht gewußt zu haben, was sie, die Verschwörungstheoretikerinnen, wissen.

Sebastian Kurz: Aber, Herr Thür, ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie ernsthaft glauben, daß irgendein Regierungschef […] Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß irgendein Gesundheitsminister […] Und ich habe ja letzte Woche persönlich den Gesundheitsminister angerufen und ihn mit diesen Fragen konfrontiert. Und auch er hat mir glaubhaft vermittelt, daß er davon nicht informiert wurde.

Weiter kennzeichnend für Verschwörungstheoretikerinnen ist, sie werfen mit Wissen um sich, das ihre Gegenüber, so sind, die Verschwörungstheoretiker überzeugt, sicher nicht haben können, und sie es ihnen deshalb auch erst erklären müssen, etwa auf die Art, wie es der zurzeitige Bundeskanzler mit seinem Englischwissen

[P]ro rata population at the same time, das bedeutet […]

Genug. Es ist genug.

Einfach wie kurz gesagt, das gesamte Interview ist im Grunde auch als ein weiteres Lehrmaterial verwendbar, um die Mechanismen offenzulegen, nach denen Verschwörungstheorien stets ablaufen.

Genug von dem auch, was der zurzeitige Bundeskanzler in diesem Interview von sich gibt, weil es von den Inhalten her nichts hergibt, bloß eines der Faktenwarnung ist. Deshalb soll zum Schluß dieses Kapitels noch aus dem unmittelbar davor gesendeten Beitrag zitiert werden, in dem unter anderen der Journalist aus Dänemark zur Wort kommt. Eingeleitet wird dieser Bericht von Martin Thür: „In Brüssel sorgt die ganze Debatte für Kopfschütteln, wie Raffaela Schaidreiter berichtet.“

Martin Kaae arbeitet seit vier Jahren in Brüssel als Korrespondent der dänischen Zeitung Jyllands-Posten. Er berichtet über die Impfstoffverteilung in der EU. Und er kennt auch Aussagen aus Österreich, sein Heimatland Dänemark hätte ungerechterweise mehr bekommen als andere.

„Dänemark hat einfach die Chance genutzt, Impfstoffe zu kaufen, die andere Länder, vor allem Bulgarien, aus Kostengründen nicht wollten. Das war ein ganz normales bekanntes Procedere. Deshalb sind wir beim Impfen schon viel weiter als andere.“

Ein Abtausch unter EU-Ländern, der berühmte Basar, den die EU-Kommission so nie wollte. Sie schlägt im Herbst vor, jedes EU-Land wird gemäß des Bevölkerungsanteils beliefert. Österreich bekommt 1,9 % aller Impfstoffe, Deutschland rund 19 % und Bulgarien 1,6 %. Allerdings einige Länder weichen von diesem Angebot ab und stehen jetzt beim Impfen schlechter da. Bulgarien etwa bestellt nur einen Bruchteil, auch Österreich hätte mehr haben können, doch davon wollen Bundeskanzler Kurz und weitere fünf Regierungschefs nicht informiert gewesen sein. Sie klagen, die Vertreter ihrer Länder hätten in einem Steuerungsgremium eigenständig gehandelt. Österreichs Vertreter Clemens-Martin Auer aus dem Gesundheitsministerium ist seit vorgestern seine Funktion los. In Dänemark dürfte dieses Zusammenspiel besser gelaufen sein.

„Was schon stimmt, dieses Steuerungssystem ist gerade für uns Journalisten sehr undurchsichtig, weil vieles geheim bleiben muß. Aber aus politischer Sicht stimmt sich der dänische Vertreter in diesem Gremium eng ab mit unserer Regierung. Im Fall von Dänemark arbeiten sie wie ein Team.“

Was in Österreich offensichtlich nicht der Fall war. Doch die Politik müsse für diese Fehlbestellungen gerade stehen, kritisiert ein Parteifreund von Bundeskanzler Kurz, der Europa-Abgeordnete der CDU und Arzt Peter Liese:

„Wenn ich eine herausgehobene Position in der österreichischen Bundesregierung hätte, dann würde ich nicht einen Beamten dafür verantwortlich machen, daß man keine Information bekommen habe. Man ist auch in der Verantwortung bei einer so wichtigen Frage, wenn es sein muß, jeden Tag nachzufragen. Also das wäre das Mindeste, was man jetzt eingestehen müßte, und sagen, wir wissen, daß wir hier einen Fehler gemacht haben und bitten trotzdem um Solidarität.“

Was der EU-Abgeordnete mit Solidarität meint. Bundeskanzler Kurz fordert einen Korrekturmechanismus, um die ungleichen Bestellungen der Länder auszugleichen, damit alle wieder auf den gleichen Stand kommen. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bestätigt heute, kurzfristig gibt es zehn Millionen Dosen extra, von BionTech Pfizer, reserviert speziell für jene Länder, die über Impflücken klagen.

„Ob die Mitgliedsstaaten diesen Vorschlag so annehmen und auch so umsetzen, das ist die Entscheidung der Mitgliedstaaten, da kann ich Ihnen heute keine Antwort darauf geben, aber das ist meine Empfehlung.“

Was zwischen den Zeilen mitschwingt, wären die Länder dem ursprünglichen Verteilungsschlüssel der EU-Kommission gefolgt, müßte jetzt nichts korrigiert werden.