Es ist das Nichtzuhören, und nicht die List

An einem der ersten Tage in diesem Monat redet ein Mann, der ein hohes und verantwortungsvolles Amt besetzte, viel davon, was er sei, wie er sei, wer er sei, und schließlich bekennt er ein, er ist Niemand, der die Bevölkerung anlügt.

Niemand heißt er sich. Es hat vor langer, langer Zeit bereits begonnen, daß Menschen vor allem in parteipolitischen Ämtern in der dritten Person von sich selber sprechen. Wie lange, lange das schon Brauchtum ist, macht ein Beispielgeber aus dem letzten Jahrhundert deutlich, der ebenfalls recht gern so von sich sprach – Haider, der Euch nicht belogen hat.

Niemand, der an die Irrfahrt eines Mannes denken läßt, der zehn Jahre braucht, um wieder nach Hause zu kommen. Hätte Niemand geographische Kenntnisse gehabt, es hätte mit den damaligen fahrtechnischen Möglichkeiten dennoch nicht mehr als einen Monat für die Rückreise … Heutzutage könnten viele noch sagen, was für ein Glück, daß Niemand nichts von Geographie wußte. Denn dadurch erst konnte eine so wundersame Erzählung entstehen, die nach wie vor gerne gelesen wird, die der Stolz des Abendlandes ist.

Was für eine große Zeit das doch war, könnte ausgerufen werden, als Männer mit geographischen Unkenntnissen noch zu solchen Erzählungen inspirieren konnten.

Und heutzutage?

Es gibt sie weiter, die Männer mit geographischer Unkenntnis. Jedoch, sie bewegen zu nichts. Sie kommen und gehen, sie wissen nicht, von wo sie kommen, sie wissen nicht, wohin sie gehen. Was von ihnen bleibt, sind Schäden. Nichts sonst. Nichts beispielsweise für Erzählungen, die noch drei Jahrtausende später gelesen, interpretiert werden.

Die Geschichte der Männer ohne Geographiekenntnisse mit ihrer dadurch unvermeidlichen Irrfahrt erzählt auch von Lügen.

Erzählungen, die so lange Bestand haben, die so fest im Gedächtnis der Menschheit verankert sind, verleiten, ermuntern jede Generation, sie neu zu deuten.

So auch diese Episode der zehnjährigen Irrfahrt, in der sich der eine Mann Niemand heißt.

Viele, viele Generationen sahen darin keine Lüge, sondern eine List, die sie bewunderten.

Solche Geschichten werden nicht nur von jeder Generation neu gedeutet, sondern auch neu übersetzt, oft gibt es von diesen sogar in einer Generation unterschiedlich erstellte Fassungen.

— Wie heißt du, kleiner Mann? Bist du einer dieser Helden von denen man so viel hört?

— Ich, ein Held? Ich bin ein Niemand. In der Tat, mein Name ist Niemand.

So beginnt die Episode mit Niemand, in einer der vielen Fassungen.

Und mit diesem Beginn endet es bereits, die Episode hier ganz wiederzugeben. Denn. Männer ohne Geographiekenntnisse der Gegenwart taugen nicht dazu, die Geschichte der Irrfahrt je noch einmal zu erzählen. Denn. Die orientierungslosen Männer der Gegenwart geben nichts her, das eine weitere Deutung der Geschichte der Irrfahrt je ermöglichen, ja, gar rechtfertigen würde, die Erzählung der Irrfahrt für die Gegenwart ein weiteres Mal zu interpretieren.

Sie sind bloß ohne Orientierung.

Dabei sind sie nicht einmal auf einer Irrfahrt.

Es wird zwar viel von ihnen, von den orientierungslosen und auf keiner Fahrt sich befindenden Männern der Gegenwart gehört, doch es fehlt ihnen, im Gegensatz zu den Männern der Irrfahrt vor Jahrtausenden, die Einsicht, wie sie sind, was sie sind, die Erkenntnis, wer sie sind.

Die List des Niemand in der Geschichte der Irrfahrt war nicht eine List, sondern sein Eingeständnis, ein Niemand zu sein. Aber Polyphemos mißversteht ihn, weil er eben Niemand nicht genau zuhört. Polyphemos macht erst aus dem Eingeständnis die List, zu seinem größten Nachteil, er beschädigt sich selbst durch sein Nichtzuhören.

Das erzählt diese Episode der Irrfahrt seit ihrer Niederschrift jeder Generation jedweder Gegenwart, daß das Nichtzuhören erst aus einem Eingeständnis eine List macht, das Eingeständnis als List mißverstanden wird.

Das Nichtzuhören von Polyphemos führt zum ersten Mißverständnis und in Folge unweigerlich zu weiteren Mißverständnissen, die ebenfalls einem nicht genauen Zuhören geschuldet sind, das alle daran hindert, ihm gemeinsam gegen Niemand beizustehen. So bleibt Polyphemos allein in seiner Höhle, vollkommen vereinzelt, ihm fern alle Krebse, Niemand zu seinem größten Schaden selbstverschuldet ausgeliefert. Niemand verdankt es nicht dem eigenen Geschick, nicht der eigenen Listigkeit, sondern dem Nichtzuhören von allen, größte Schäden anrichten zu können.

— Merke dir diesen Namen gut, damit du weißt, wer dich überlistet hat.

Mit dieser von Niemand sich selbst angerechneten und dem Geblendeten zugerufenen Leistungslist endet – der Schluß soll doch nicht unerwähnt sein – die Episode von dem in seiner Höhle Zurückgebliebenen.

So viele Veröffentlichungen, so viele Fassungen, so viele Übersetzungen, so viele seit so vielen Jahrtausenden, die die Erzählung der Irrfahrt, die Episode von Niemand hören, lesen. Und wie wenige, die das Zuhören je zu ihrem Grundsatz machen, um sich nicht selbst zu überlisten.

Und in der Gegenwart des Tages, in der sich wieder einer hinstellt als Niemand, der die Bevölkerung anlügt, will kaum noch wer wissen, wie durch ihr Nichtzuhören sie sich selbst zum größten eigenen Schaden überlisten.

Dabei, ist dies doch das Leichteste, es sich zu merken, wem nicht zugehört wird, sind doch heutzutage ihre Namen so oft wie nie zuvor genannt, verbreitet.

Jedoch. Es sind nicht die Namen, die gut gemerkt werden müssen, sondern nur und endlich dies:

Es ist das Nichtzuhören, das überlistet.