Ein Satz, der in Anführungszeichen zu setzen ist, weil dieser von Annie Ernaux geschrieben ist.
Jedoch, sie verwendet nicht das Präsens, sondern das Imperfekt, da sie von der Vergangenheit erzählt, die ihre, auch ihre Vergangenheit ist.
„Man urteilte innerhalb des Gesetzes, nicht über das Gesetz.“
Ein Satz, der augenblicklich an die Gegenwart denken läßt. Nicht an Warschau, Texas, nicht an Austin, Ungarn. Das wäre naheliegend, geht es in „Das Ereignis“ doch um Schwangerschaft, Schwangerschaftsabbruch, um Abtreibung, Engelmacherin …
Woran bei diesem Satz sofort gedacht werden muß, was bei diesem Satz unweigerlich in der Sekunde einfällt, ist nicht Austin, Polen, ist nicht Budapest, Texas, sind also nicht die Gesetze in bezug auf Schwangerschaft, ist nicht das Urteilen innerhalb der Gesetze in bezug auf Schwangerschaftsabbrüche, sondern daran, daß Annie Ernaux in ihrem Satz auf der Seite 39 anlegt, es werde innerhalb oder, wie es auch übersetzt werden kann, in bezug auf das Gesetz, nicht aber über das Gesetz geurteilt, mit dem sofort an die Gegenwart nicht nur in Texas, Polen, Ungarn gedacht werden muß, sondern an die Gesetze der Gegenwart, über die nicht geurteilt wird, Gesetze, über die 36 Seiten weiter, auf Seite 75, zu lesen ist:
(Während ich dies schreibe, versuchen Flüchtlinge aus dem Kosovo von Calais aus nach England überzusetzen. Die Schleuser verlangen Unsummen und verschwinden manchmal vor der Überfahrt. Doch nichts kann die Kosovaren aufhalten, genauso wenig wie alle Migranten aus armen Ländern: Sie sehen keine andere Rettung. Man verfolgt die Schleuser, man beklagt ihre Existenz so wie dreißig Jahre zuvor die der Engelmacherinnen. Man stellt weder die Gesetze infrage noch die Weltordnung, die sie hervorbringen. Und mit Sicherheit gibt es unter den Menschen, die heute Flüchtlingen helfen, und denen, die damals ungewollt Schwangeren halfen, anständigere und weniger anständige.
Während dies von Annie Ernaux gelesen wird, werden nicht nur in Wien, Texas weder die Gesetze infrage gestellt noch die Weltordnung, die Abschiebungen hervorbringen.
Im nächsten Winter, im nächsten Frühjahr, im nächsten Sommer, im nächsten Herbst, im Jahr darauf werden es dann wieder Abschiebungen sein, diesmal irgendwohin, über die wieder innerhalb des Gesetzes geurteilt werden wird, und wieder nicht über das Gesetz.
Es ist stets das Abschieben des Urteilens auf innerhalb des Gesetzes, statt endlich die Gesetze infrage zu stellen, die solche Weltordnungen hervorbringen.
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