Im Sommer ’23 bricht in Österreich ein Possenstreit über die „Normalität“ aus. Vorneweg, um nicht sagen zu müssen, an der Spitze des Possenstreits, an der Bühnenrampe, auf der die Streitposse gegeben wird,
eine formal an der Landesspitze sitzende Frau
und ein formal an der Staatsspitze sitzender Mann.
Es mengen sich gar viele in die Streitposse „Normalität“ ein, wollen auch einen Platz vorne an der Rampe, schreien aus dem Flüsterkasten … Alle wissen etwas dazu, was denn „normal“ sei, was denn nicht „normal“ sei, wer denn „normal“ sei, wer denn nicht „normal“ sei, wer denn die „Normalität“ vertrete, wer denn nicht die „Normalität“ vertrete, wer für die „Normalität“ eintrete, wer, ist eine der Widerreden, für sich in Anspruch nehme, für „Normaldenkende“ einzutreten und hinzutreten, sei präfa…
Allerdings von Vorgängerinnen kann bei diesem zurzeitigen parteipolitischen Personal nicht gesprochen werden, denn dafür müßte es Visionen haben, müßte es Zukunft denken können, wie die damaligen — auch wenn es Visionen des Untergangs, eine in Untergänge gedachte Zukunft war — Protofaschistinnen oder die damaligen Präfaschisten, die hierfür einen „normalen“ Begriff für sich fanden: „Konservative Revolution“.
Als ob es tatsächlich nur die eine einzige „Normalität“ geben würde, so geht der Possenstreit in diesem Sommer ’23 in Österreich, und dabei, das wird vollkommen ausgeblendet, gibt es nicht die eine einzige Normalität, sondern Normalitäten. Es kommt nur darauf an, in welcher Normalität ein Mensch lebt, inmitten von Menschen, die in ihren Normalitäten leben, dessen Normalität aber nicht eine Abnormalität ist, wie in diesem Sommer auch immer wieder zum Vorwurf gemacht wird, es würden Menschen, die nicht „Normale“ seien, als „Abnormale“ denunziert, diffamiert, ausgegrenzt, gebrandmarkt werden, und das sei, so ein gefallenes Wort: „brandgefährlich“, aber menschgemäß gibt es die Abnormalität nicht, menschgemäß nur Normalitäten.
Von einer dieser menschgemäßen Normalität ist beispielsweise in „V13 – Die Terroranschläge in Paris – Gerichtsreportage“ von Emmanuel Carrère zu lesen:
„Ehrlich gesagt nein, damit hatte ich kein Problem. Das fand ich normal.“ „Und Ihre Onkel, was haben die dort gemacht?“ „Musik. Jean-Michel hat gesungen und Fabien war Tontechniker, glaube ich …“
Unmittelbar davor ist bei Carrère zu lesen:
In Syrien beginnt der Bürgerkrieg, und alle schließen sich ihm an: zuerst Jean-Michel, dann Fabien und dann die ganze Sippschaft, von der Mutter über die Schwester bis zur Nichte Jennifer, die ihre Aussage ebenfalls vom Gefängnis aus macht. Und zwar eine, bei der es einem kalt den Rücken hinunterläuft. Ohne je die Wahl gehabt zu haben, hat sie ihr Leben ganz dem strengen Islam verschrieben. Mit vierzehn brach sie die Schule ab, mit fünfzehn verheirateten ihre Mutter und ihre Onkel sie mit einem Salafisten aus Bayonne, der genauso jung war wie sie und ihr kurz hintereinander fünf Kinder machte. „Nach Syrien“, sagt sie, „sind wir nicht wegen des Kriegs gegangen, sondern um ein Land aufzubauen und dort unsere Kinder großzuzieheh, um unsere Religion auf islamischen Boden zu leben und nicht in einem Land des Unglaubens. Ich habe Daesch nicht als Terrororganisation betrachtet.“ Zur Veranschaulichung dieser idealistischen Sicht beschreibt sie das Leben in Rakka unter der schwarzen Flagge: die Häuser, in denen Frauen und Kinder eingesperrt werden, den Sklavenmarkt und die Hinrichtungen auf öffentlichen Plätzen, die mitten auf der Straße auf riesigen Bildschirmen übertragen werden … „Haben die Leute das denn gutgeheißen?“ „Ja, alle, die dort lebten, fanden das gut. Und wenn nicht, hätten sie es niemals gesagt, das wäre zu gefährlich gewesen.“ „Was hat Sie denn dann dazu gebracht, Daesch zu verlassen? Die Ausschreitungen? Der jordanische Pilot? Die gefesselten Männer, denen man in aller Ruhe die Köpfe abgeschnitten hat?“ „Ehrlich gesagt nein, damit hatte ich kein Problem. Das fand ich normal.“
Im August 2014 folgt Krayem dem Aufruf von Abu Mohamed al-Adnani, der gerade das Kalifat ausgerufen hat, und fährt nach Syrien, um dort „im humanitären Bereich zu arbeiten“, wie seine Zugehörigkeit zu den fünfzehn bärtigen Männern in Kampfanzügen belegt, die der Hinrichtung jenes jordanischen Kampfpiloten beiwohnen, der bei lebendigem Leib in einem Käfig verbrannt wurde – das grausamste aller grausamen Daesch-Videos.
„Ehrlich gesagt nein, damit hatte ich kein Problem. Das fand ich normal.“
Dass er Krayem als einen nachdenklichen, gleichmütigen jungen Mann erlebt hat, der Wert darauf legt, als zuverlässig und ehrlich zu gelten. Als bemühten Schüler, mit dem er im Laufe des Unterrichts eine Respekts- und Vertrauensbeziehung aufgebaut hat. „Abgesehen von den schrecklichen Taten, die er begangen hat, ist Herr Krayem eine sehr menschliche Person“ — eine Formulierung, die eine Welle der Empörung auslöst. Denn ist die Menschlichkeit eines Mitglieds der grausamsten IS-Brigade nicht die eines Auschwitz-Kommandanten, der ansonsten ein zärtlicher Vater und fürsorglicher Ehemann war? „Vielleicht“, sagt der Lehrer mit unterschütterlicher Sanftmut. „Ich will die Schwere seiner Schuld nicht herunterspielen, ich erzähle Ihnen nur von dem Mann, den ich vier Jahre lang regelmäßig getroffen habe. Er ist vielleicht kein netter Kerl, aber jemand, der anständig und menschlich ist. Wenn wir in einer Demokratie leben wollen, muss es auch Leute geben, die bei einem Prozess zugunsten des Angeklagten aussagen.“ Ja, das muss es.
Was fand dort statt? Wurden dort IS-Videos angeschaut? Ja. Brahim ließ sie in Schleife auf seinem Laptop laufen — und klappte ihn zu, wenn sich mal ein Fremder in seinen Laden verirte. Und die anderen? Schauten sie mit? Gab es — wie es in den belgischen Akten heißt – Videositzungen, in denen diese grausamen Bilder gemeinsam angeschaut wurden: die Enthauptung des amerikanischen Journalisten James Foley, die Verbrennung des jordanischen Piloten bei lebendigem Leib in einem Käfig, und, ihrer aller Favorit, weil sie den Star kannten: Abdelhamid Abaaoud, ihr Jugendfreund, ihr Bruder, der am Steuer seines Pick-ups eine Traube von Leichen durch den syrischen Staub schleift — und sich mit seiner kleinen Fratze eines psychopathischen Kobols dabei totlacht und dazu aufruft, doch mitzumachen und sich mit ihm totzulachen? Und Mohamed Amri, Hamza Attou, Ali Oulkadi, die im Les Béguines dealten und hin und wieder im Service aushalten, saßen sie mit in diesem Kreis rund um den Computer, um diesen Séancen beizuwohnen — wie es die belgische Wortwahl nahelegt und die Anklage zu beweisen versucht? Oder verrichteten sie hinter der Bar ihre Arbeit und ließen ihren gleichgültigen Blick über den Bildschirm gleiten, so wie Leute, die sich nicht wirklich für Fußball interessieren, über ein Fußballspiel — wie ihre Verteidiger argumentieren?
„Das fand ich normal.“
Viele finden jetzt das Video der Ehrerbietung, das in diesem Sommer ’23 in Österreich veröffentlicht, wohl ebenfalls als normal …

Es gibt nicht nur die eine einzige Normalität, sondern Normalitäten, und von diesen Normalitäten gar recht viele zur selben Zeit am selben Ort. Es könnten noch weitere Beispiele von Normalitäten gebracht werden, in denen Menschen miteinander nebeneinander leben, gerade und also auch in Österreich — nur eine noch der vielen Normalitäten soll erwähnt werden … Männern vor allem der schwarzen Christfraktion Normalität ist eine, die sie Jahr für Jahr an das Grab eines Diktators zum Gedenken marschieren läßt, Normalität, die sie in ihre sonstigen gelebten Normalitäten integriert haben und ausleben, wenn ihre an der Zeit ist.
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