Hunger

Wie leichtfertig heutzutage wieder ein Propagandawort aufgenommen wird, nur weil dieses von der gesinnungsgemäßen Anhangsschaft eines auf dem Pferd herumgeführten kleinen Gebirgsjäger aufgebracht wird, und wie leichtfertig heutzutage wieder nicht wenige bereit sind, einen „Volkskanzler“, der gesinnungsgemäß ein Mann sein muß, haben zu wollen, wie leichtfertig heutzutage dabei vergessen wird, daß vor einer Ewigkeit bereits ein endgültiges Urteil über „Volkskanzler“ gesprochen wurde, zum Beispiel am 13. September 1933 in der „Arbeiter-Zeitung“:

Was das Volk dazu sagte. Ein Leser schreibt uns: Ich habe Montag abend einen Rundgang von Radiogeschäft zu Radiogeschäft gemacht, wo überall die Rede des Bundeskanzlers im Lautsprecher zu hören war. Ueberall standen Leute. Ueberall gab es Diskussionen, überall Leute, die Zwischenrufe machten. Ueberall gab es Sozialdemokraten, die zu diskutieren begannen. Einige Christlichsoziale machten lange Gesichter, vielleicht denken sie nach dem Katholikentag über das Gehörte nach. Aus Dutzenden, ja Hunderten solcher kleiner Versammlungen wurden trotz dem Verbot sozialdemokratische Versammlungen. In Hunderten dieser Versammlungen konnte man den „Volkskanzler“ hören. Doch leider hörte der „Volkskanzler“ die Stimme des Volkes nicht!

Der Anlaß für dieses Urteil? Der Katholikentag ist zu Ende. Über den unmittelbar davor berichtet wird:

Der Katholikentag ist beendet. Der Katholikentag wurde gestern abgeschlossen. Vormittags fand auf dem Kahlenberg eine Türkenbefreiungsfeier statt, an der sehr viele Polen, auch Vertreter der polnischen Regierung, teilnahmen, die als Gäste zum Katholikentag gekommen sind. Die Feier wurde auch mit der polnischen Nationalhymne geschlossen. Nachmittags fand im Stadion die dritte und letzte Hauptversammlung statt, bei der auch der Bundespräsident sprach. Mit einer Schlußandacht im Stephansdom und einem Geläute der „Bummerin“, der großen Glocke, die seinerzeit aus Kanonen, die von den Türken erbeutet wurden, gegossen worden ist, wurde der Katholikentag beendet.

Zum erwähnten „Lautsprecher“ fällt ein, was Karl Farkas zu Fritz Grünbaum sagte, in ihrer Unterhaltung „Lautes und Leises“: „Zeitalter der Technik: es gibt viel zu viel Lautsprecher und viel zu wenig Kopfhörer!“ Das Radio, technisch abgelöst durch das Internet, Versammlungen ins Internet verlegt, aber keine Notwendigkeit, das umzuschreiben, nur weil sich die Technik geändert hat: Es gibt viel zu viel Lautsprecher und viel zu wenig Kopfhörer …

Der Todesort von Fritz Grünbaum: Konzentrationslager Dachau. Ein Jahr später, 1942, auch im Jänner, wurde in Hartheim bei Linz Benedikt Fantner ermordet, von dem in der gleichen Spalte, über „Der Katholikentag ist beendet“ ein Gedicht veröffentlicht ist, das einundneunzig Jahre später wieder zu veröffentlichen ist, gerade auch in Österreich, in dem über „Essensarmut“ reichlich geschrieben wird.

Hunger

Bruder Mensch, kennst du das auch:
Man ist da und hat nur Luft im Bauch.
Man fühlt’s im Magen stechen und pressen –
Man hat Hunger und nichts zu fressen.
Man pfeift auf die ganze Volkswirtschaft,
Man hat zum Denken keine Kraft;
Für ein Stück Brot und einen Happen Braten
Gäbe man den Goethe samt allen Zitaten.
Man möchte schlingen, man möchte pampfen
Und sehe gern aus dem Teller dampfen
Eine Suppe, goldgelb, fett, duftig und fein –
Man möchte sie schmatzen, man ist doch ein Schwein.
Der eine hat Hunger, der andre Fressen und Geld,
Fressen und Hunger sind die Pole der Welt!
Hunger ist Fortschritt, sagen die Weisen –
Ich habe Hunger und sie können speisen.
Ich habe nur Hunger und der Fäuste zwei:
Zu fressen gebt, oder die Welt geht entzwei