Geldpest

Am 31. Juli 1973, ohne sich entscheiden zu können, zum Leben gekommen zu sein, genau an dem Tag, ohne sich für das Leben entscheiden zu können, genau an dem Tag das Leben aufgehalst zu bekommen, ohne sich gegen das Leben entscheiden zu können, genau an dem Tag also, am 31. Juli 1973, als Guido Morselli sich dafür entschied, aus dem Leben zu gehen, dieser 31. Juli 1973 wäre, und wieder, ohne sich dafür und dagegen entscheiden zu können, genommen worden, als ein Tag zum Feiern, der 31. Juli aus jedem Jahr genommen worden, dieser 31. Juli, der seit Jahrzehnten nicht gefeiert wegen des Geburtstages, sondern wegen des Todestages.

Genauer: beinahe wäre der 31. Juli genommen worden gewesen, der aber, um genau zu sein, für eine ganze Woche auch tatsächlich genommen worden gewesen war. Genommen von Michael Krüger, der in seinem Nachwort zum in der deutschsprachigen Übersetzung betitelten Roman „Dissipatio humani generis oder die Einsamkeit“ als Todestag von Guido Morselli den 1. Juli 1977 festhält und damit den 31. Juli aus dem Kalender löscht —

[…] Alpen, dieser Mann, Guido Morselli, entschließt sich am 1. Juli 1977, seinem Leben mittels einer Pistole ein Ende zu machen.

Die Vorstellung, ohne den 31. Juli als Todestag weiterzumachen, läßt keine Wahl, keine andere Entscheidung zu, als diese: Es muß das von Michael Krüger in einem Suhrkamp-Buch geschriebene Datum überprüft werden.

Wie gut, das Nachwort von Michael Krüger nicht an einem 31. Juli gelesen zu haben, sondern weit danach, irgendwann spät im Herbst. Eine Entscheidung für eine Überprüfung wäre an einem 31. Juli eine Unmöglichkeit — aber so, weit später nach dem 31. Juli, stellt es sich dann spät im Herbst doch heraus, als nach einer ganzen Woche nach dem Abbbruch des Lesens des Nachworts an der Stelle des Todesdatums die Wahl auf die Prüfung fällt: Guido Morselli nahm sich tatsächlich am 31. Juli 1973 das Leben.

Am 31. Juli 1973 setzt Guido Morselli seine Entscheidung um, sein Leben erfüllt sich in eigener Entscheidung im Tod.

Und damit ist der 31. Juli als Tag der Feier des Todes gerettet.

Nun kann das Nachwort von Michael Krüger weitergelesen werden, und das erheitert. Wie er etwa auf Thomas Bernhard zu sprechen kommt.

Neben dem Kopf des Toten lag eine Mappe mit Briefen […] Neben diesen Briefen an den Schriftsteller Guido Morselli liegt ein Brief von seiner Hand an die Gemeinde von Varese, in dem er schreibt: „Non ho rancori – Ich verspüre keinen Groll“, es ist der Schlussstrich unter eine lange Reihe von Auseinandersetzungen, die der aufgeklärte Bürger mit dem Bürgermeisteramt geführt hat, unter anderem ging es um den Bau einer Versuchsstrecke für Automobile und Motorräder ganz in seiner Nähe, die der lärmempfindliche Schriftsteller um alles in der Welt verhindern wollte. (Man denkt unwillkürlich an die möglichen Beledigungsbriefe von Thomas Bernhard, die dieser geschrieben hätte, wenn es der Stadt Salzburg eingefallen wäre, den Bau einer Versuchsstrecke an seinem Besitz vorbeizulegen!)

Menschgemäß hatte Thomas Bernhard Besitz, aber im Oberösterreichischen, nicht im Salzburgischen; in Ohlsdorf, in Ottnang bei Wolfsegg, die Krucka am Grasberg, eine Wohnung in Gmunden —

Thomas Bernhard hatte, wird berichtet, als Berufsbezeichnung in seinem Reisepaß: „Landwirt“. Das hätte, schreibt Michael Krüger, Guido Morselli ebenfalls als Berufsbezeichnung …

Mit einem Bauern, der ihm, Thomas Bernhard, einen Schweinestall vor seinen Besitz in Obernathal hinstellen wollte, soll der geruchsbesorgte Bauer zu Nathal Auseinandersetzungen … Briefe schrieb Thomas Bernhard tatsächlich, beispielsweise einen lieblichen Leserbrief kurz vor seinem Tod, einen ganz ohne Groll, gesandt an die „Salzkammergut-Zeitung“, in dem er sich gegen die Einstellung der Straßenbahn in Gmunden …

Kurz vor seinem Tod beendete Guido Morselli seinen Roman, der vier Jahre nach seinem Tod, 1977 unter dem Titel Dissipatio H. G. erschien.

Die Menschen haben in dreißig Jahrhunderten ungefähr 5000 Kriege angezettelt. Sie haben das Unrecht begangen (der Gedanke stammt von Albert Camus), die Geschichte, auch wenn sie nicht von ihnen begonnen wurde, fortzuführen. Ich verurteile sie nicht. Ihre größte, oder jüngste, Schuld bestand in der Verunstaltung der Erde. Man pflegte weitere Vorwürfe hinzuzufügen: die Verschmutzung, die Verrohung (beziehungsweise, euphemistisch, die „Gewalt“). Die Inflation (ohne Euphemismus: die Geldpest).

Nur dieser Absatz aus diesem Roman soll zitiert sein, aus dem Buch, dem eine Inhaltsangabe, eine Nacherzählung nicht gerecht werden kann, nur die vollständige Abschrift, nur das Lesen des gesamten Romans.

Thomas Bernhard, vulgo Bauer zu Nathal, schrieb also kurz vor seinem Tod einen Brief der Ortsverliebtheit an eine Lokalzeitung, siebenundreißig Jahre schrieb zuvor Guido Morselli einen Brief an eine Zeitung, das war 1952 – vor siebzig Jahren, veröffentlicht von „La Prealpina“:

La difesa del verde è una necessità sociale.

Michael Krüger stellt neunundsechzig Jahre später – „Die Verteidigung des Grüns ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit.“ – die Frage, ob „Morselli in dieser Hinsicht seiner Zeit voraus war, lange bevor Landschaftsschutz zu einer zentralen Kategorie der politischen Auseinandersetzung geworden ist“, die andere bereits vor ihm fragten, wenn auch erst nach seinem Tod, ob Guido Morselli ein ökologischer Vorläufer —

Was für eine auf das Autoritäre hin zugerichtete Frage, ob als irgendwer je voraus, ein einziger Mensch je allen anderen voraus, ein einziger der Zeit von allen je voraus sein könnte, während es doch, auch die Ökologie betreffend, so viele Menschen, also auch schon lange vor Morselli, viele, viele Menschen gab, denen es, ohne ihrer Zeit je voraus sein müssen, klar ist, die „Geldpest“ ist es, die in die Zeit voraussehen läßt, was noch alles zu dem, das durch die Geldpest in ihrer Zeit bereits geschieht, geschehen lassen wird.

Wie von den „Vorläufern“ in jedweder Hinsicht nicht abgelassen werden kann, so wird von den ihnen nachkommenden „Erlösern“ nicht gelassen, die von Menschen als Unbefleckte angenommenen „Erlöserinnen“, die ihnen verkünden, vor ihnen – also auch vor und gerade in den letzten siebzig Jahren – sei, auch die Ökologie betreffend, je nichts gewußt, je nichts oft und breit gesagt, geschrieben worden und je nichts geschehen und mit ihnen erst komme das Eintreten in das Helle