Dr. Lueger machte übrigens niemals ein Hehl daraus, daß er den antisemitischen Tendenzen seiner Partei innerlich fremd gegenüberstehe. Er schob die Verantwortung für das verübte Unrecht immer anderen Faktoren zu. Als ich ihn einmal wegen der Präterierung der jüdischen Bezirksräte interpellierte, antwortete er in offener Gemeindratssitzung, daß die Ernennung im Stadtrat in seiner Abwesenheit geschehen sei und daß er diesbezüglich jede Verantwortung ablehne.
Dies am 19. September 1926 in Wien, Österreich, im Café Prückel auf dem KL-Platz, in den „persönlichen Erinnerungen an Dr. Lueger“ des Dr. Oskar Hein gleich im Anschluß an die „Erinnerung an Lueger“ von Felix Salten, von dem vor genau einhundert Jahren in ebendieser Zeitung, in der „Neuen Freien Presse“, seinen „Bambi“ als Fortsetzungsroman gelesen, wird sechsundneunzig Jahre später vielleicht in Versuchung geraten, zu spekulieren, ob der „Parteibürgermeister“ ebenso wie der „österreichische Streicher“ nach den Massenverbrechen, nach den Massenmorden in den KLs, ebenfalls gesagt hätte, er sei immer Antisemit gewesen und werde es auch weiterhin bleiben —
Sechzehn Jahre nach dem Tod von Karl Lueger berichtet die „Reichspost“ am Montag darauf über den sonntäglichen Aufmarsch von Hunderttausenden nicht nur über die Hoch-Rufe, die dem „österreichischen Streicher“ gelten, ihrem Denkmal aus Fleisch und Blut, sondern sie weiß auch zu berichten, wer „diese Stadt aus der Ausbeutung landfremder und jüdischer Kapitalisten“ —
Die Hoch-Rufe gelten dem „österreichischen Streicher“, dem nach den Massenmorden zum ersten Präsidenten des österreichischen Parlaments gewählten, ein Leopold, der weiß, wen er freizusprechen hat, und der in einem weiteren Leopold für sich einen Fürsprecher findet.
Der „österreichische Streicher“, ein Paradebeispiel österreichischer traditioneller Gepflogenheiten, dem so viele viel zu verdanken haben, auch ihre Bedeutung, lange, lange nach seinem Tod noch, durch die Zuerkennung des nach ihm benannten Preises —
Der „österreichische Streicher“ ebenso das, was Felix Salten von dem „Parteibürgermeister“ schreibt, ein „Kleinbürger„, ein „Vorstädter“, der weiß, an wen er sich für wen wenden muß, wie auch sein zurzeitiger Nachfolger als Präsident weiß, wann er wen wie zu bedienen hat, wann er was für wen zu opfern hat —
96 Jahre danach, sechsundneunzig Jahre später wird vor dem Kaffeehaus Prückel auf dem KL-Platz wieder etwas errichtet, eröffnet, etwas mit Holzlatten, es wird von einem Schaulager gesprochen, vielleicht eine Verkürzung für Holzschaulager, ein Synonym für Holzmesse, verkürzt auf Messe, da die Latten zeitlich beschränkt ausgestellt, und das Wesen einer Messe ja das Temporäre …
Zeitlich nicht beschränkt hingegen in Österreich der Antisemitismus.
Ausgelobt ist nun zwar „Lueger temporär“, aber nicht: Antisemitismus endet.
Das Leben von Karl Lueger war zeitlich auf 66 Jahre beschränkt, davon 35 Jahre in vielen Funktionen, beteiligt an Gründungen, in vielen Ämtern, davon 13 Jahre als Bürgermeister …
Der Antisemitismus in Österreich hingegen nicht ein temporärer, sondern ein permanenter.
Unter dem permanenten Antisemitismus Vorschläge über Vorschläge, für und gegen die Skulptur auf dem KL-Platz, und was für Vorschläge, oh, was für Ideen —
Es ist nicht nur ein permanenter Antisemitismus, sondern auch ein fröhlicher, ein heiterer, der bei aller Bildung dem plattesten Witz nicht abhold. Als ob nicht seit Jahrzehnten um den gesinnunsgemäßen Wanderweg durch die Stadt gewußt wird, zu Plätzen, zu Kirchen, zu Parks, zu Gassen, wird nun auf dem KL-Platz auf Latten Wege …

Um, mit einem Wort, das petty bourgeois inzwischen auch lieben, die Nachhaltigkeit des Antisemitismus hat der „österreichische Streicher“ mehr gewichtige Verdienste als sein Parteikamerad erworben, in seinen 82 Lebensjahren, davon 61 Jahre als Aktivist, in vielen Funktionen, beteiligt an vielen Gründungen, in vielen Ämtern, gestorben 1953, als erster Präsident des Parlaments des sich herausgewundenen, des sich Verantwortung ablehnenden Österreichs …
Es müssen nicht die gesamten „persönlichen Erinnerungen“ von Dr. Oskar Hein zitiert werden, aber der eine und andere Absatz ist es doch wert, zitiert zu werden.
Wer ein objektives Urteil über die politische und kommunale Wirksamkeit abgeben wollten, müßte bei den vielfachen Wandlungen, die er durchmachte, zwischen den einzelnen Phasen dieser Tätigkeit eine scharfe Unterscheidung machen. Aus dem einstigen Demokraten Lueger, dem Parteigenossen Dr. Kronawetters und Verehrer Adolf Fischhofs, wurde der Führer der christlichsozialen Partei, die durch eine skrupellose, vor keinem Mittel zurückschreckende Opposition den Sturz der liberalen Gemeindeverwaltung herbeiführte, nachdem diese mit Preisgebung ihrer Parteiinteressen gegen den Widerstand seiner Partei das große Werk der Vereinigung Wiens mit den Vororten zustande gebracht hatte. Zu den ersten Jahren nach Erlangung der so heiß ersehnten Macht war Dr. Lueger ein Parteibürgermeister und ein Gefangener der von ihm selbst in erbitterten Wahlkämpfen ausgegebenen Schlagworte.
Das schreibt Dr. Oskar Hein, der
An dem heutigen Tage, an welchem das Denkmal Doktor Karl Luegers enthüllt wird, will ich als der einzige Ueberlebende aus der liberalen Gruppe, die ihm als Opposition gegenüberstand, keinen politischen Artikel schreiben, der naturgemäß an vielen seiner Handlungen und Unterlassungen scharfe Kritik üben würde Ich beschränke mich auf einige von den zahllosen persönlichen Erinnerungen und senke die Fahne vor dem toten politischen Gegner.
„einzige Ueberlebende aus der liberalen Gruppe“ an dem Sonntag, an welchem das Denkmal …
Zu der Zeit, als ich in den Gemeinderat gewählt wurde, stand ich schon einem abgeklärten Manne gegenüber, der, im unbestrittenen Besitze der Herrschaft stehend, eifrig bemüht war, die Parteigegensätze abzuschwächen. Wenn ich um meine persönlichen Erinnerungen an Dr. Lueger gefragt werde, so muß ich wahrheitsgemäß feststellen, daß ich persönlich bei Dr. Lueger stets das weitestgehende Entgegenkommen gefunden habe Deshalb wurde ich damals in zahllosen Fällen ersucht, meinen Einfluß bei Dr. Lueger zu benutzen, um drohendes Unrecht abzuwehren oder begangenes Unrecht wieder gutzumachen. Einmal hatte mich eine Deputation des Lehrersvereines im zweiten Bezirk ersucht, bei dem Bürgermeister wegen des Avancements der seit einem Dezennium präterierten jüdischen provisorischen Unterlehrer zu intervenieren. Dr. Lueger, dem ich die Angelegenheit vortrug, sagte mir: »Sie sind ja auch Politik, Sie wissen ja, daß man der Partei, welcher man alles verdankt, Rechnung tragen muß.« Ich erwiderte, daß die Partei Dr. Lueger mehr verdanke als er der Partei. Dr Lueger erklärte, er sehe ein, daß diesen armen Lehrern Unrecht geschehe, er könne aber in diesem Punkte bei seiner Partei nichts ausrichten. Als ich dies bezweifelte, antwortete er mit einem echt Luegerschen Witzworte: »In den den Dingen, wo ich gescheiter bin als die anderen, setze ich alles durch, aber was ein Jud ist, das wissen die anderen ebenso gut wie ich.« Nach wiederholtem Drängen erhielt ich endlich die Zusage, daß der Stadtrat die Unterlehrer sukzessive ernennen werde. Diese Zusage wurde auch loyal eingehalten.
… das erinnert daran, daß Jahrzehnte später wieder ein Politiker von der Partei, der alles … auch etwas Permanentes in Österreich — „Aber was ein Jud ist, das wissen die anderen ebenso gut wie ich.“ Lueger war also nur einer der vielen, in seiner Partei, in Wien, in Österreich, die wußten, „was ein Jud“ …
Wiederholt äußerte er zu mir, daß er die Opposition, sehr gern zu positiver Mitarbeit heranziehen würde, daß es ihm aber wegen Widerstandes seiner Partei nicht möglich sei. Oppositionelle Anträge wanderten damals fast ausnahmslos in den Papierkorb.
Der heutzutage so als Übermächtige Dargestellte, doch ein Ohnmächtiger gegen seine Partei — Ohnmächtigkeit und Ablehnung von Verantwortung, wahrscheinlich auch dafür, Otto Glöckel, der sich gegen die „Diskriminierung von sozialdemokratischen Junglehrern“ einsetzte, entlassen zu haben.
Noch eine Permanenz in Österreich, Immanenz Österreichs: Ablehnung von Verantwortung.
Dr. Lueger hatte eine überaus feine Witterung für die in der Bevölkerung herrschende Stimmung. Wenn er bemerkte, daß eine Interpellation der Volksstimmung Ausdruck gab, lehnte er sofort die Verantwortung und stellte sich auf Seite der Interpellanten. Als ich in meiner Interpellation den Stadtrat wegen der Verbarrikadierung der Ringstraße von Tribünen aus Anlaß des Festzuges angriff, kritisierte er in seiner Interpellationsbeantwortung die Anordnungen des Festkomitees womöglich noch heftiger als ich und sagte schließlich zu dem neben ihm stehenden Schriftführer und Obmann des Festkomitees Dr. Klotzberg: Das übrige, was ich mir denke, werde ich meinem lieben Freund Dr. Klotzberg am Abend nach dem Festzug sagen. »Ich hoffe,« sagte er zu mir gewendet, »daß Sie mit meiner Antwort zufrieden sind.« So nahm er den Interpellanten den Wind aus den Segeln.
Er, Lueger, hatte also eine „feine Witterung“, so wie ein Hund, von dem Felix Salten erzählt. Was Felix Salten über den Hund bereits zu erzählen weiß, wird später, nicht viel später, wieder und totalitärer wohl als je zuvor der Mensch, was der Hund ist, von dem Jankélévitch —
Einmal hatte während der Spezialdebatte über das Budget in Anwesenheit Dr. Luegers wegen einer Aeußerung des Stadtrates Hraba und des hierauf erfolgten Ausschlusses zweier sozialdemokratischer Gemeinderaete mitten in der Nacht eine Obstruktion begonnen. Am darauffolgenden Vormittag hielt Reumann eine mehrstündige Obstruktionsrede über das Armenwesen in den einzelnen Bezirken, deren Ende nicht abzusehen war. Nachmittags eröffnete Dr. Lueger die Sitzung mit der Erklärung, daß er die Diskussion über das Armenwesen abbreche und die Post Bedeckung und Bilanz zur Abstimmung bringe. Da die Opposition darauf nicht vorbereitet war und sich niemand zu dieser Post zum Worte gemeldet hatte, war die Abstimmung rasch erledigt. Nunmehr sagte der Bürgermeister: Die Steuern sind bewilligt, wir werden daher die Fortsetzung der interessanten Darlegungen des Kollegen Reumann über das Armenwesen erst im nächsten Jahre (es war die letzte Dezembersitzung vor Weihnachten) nach dem Dreikönigstage anhören. Doktor Lueger war aber zu meiner Zeit ein objektiver Vorsitzender. Als ich in einer Debatte über die Versorgung der Vororte mit Gas die Mehrheit und den Bürgermeister selbst heftig augriff, wollte mich die Mehrheit am Reden verhindern. Dr Lueger verschaffte mir energisch Ruhe, indem er sagte, es müsse im Gemeinderat jedermann gestattet sein, seine Meinung zum Ausdrucke zu bringen.
Damals wurde von „Armenwesen“ gesprochen, heutzutage von „vulnerablen Gruppen“ – die Wörter bleiben nicht die gleichen …
Sehr ergötzlich waren die gegenseitigen Frotzeleien zwischen den beiden Urwienern Lueger und Schuhmeier. Einmal sagte Lueger zu Schuhmeier in offener Gemeinderatssitzung: »Ich habe Sie sehr gern, Sie haben mich auch sehr gern, so bieten wir der Welt ein Schauspiel von zwei feindlichen Brüdern, sehen Sie, tun Sie nicht so auffällig gegen mich, es kommt Ihnen doch nicht vom Herzen.« Ein anderes Mal sagte er: »Gemeinderat Schuhmeier wird gewiß auch finden, daß das, was ich schaffen will, im allgemeinen Interesse gelegen ist (Schuhmeier dazwischenrufend: »Das wir zusammen schaffen wollen.«) Darauf Lueger: »Ja, Sie werden auch mitarbeiten. Die Sache ist nämlich so: Ich werde arbeiten und Sie werden mich sekkieren.«
Als Lueger starb, bewarb sich Schuhmeier um das Landtagsmandat der Leopoldstadt, das durch den Tod Luegers zur Erledigung gelangte. In der ersten Wahlversammlung sagte Schuhmeier, Lueger habe ihn immer seinen lieben Freund genannt, ihm aber nichts hinterlassen. Da melde er sich selbst zu einem Teile der Erbschaft.
Vor sechsundneunzig Jahren fällt Felix Salten zu Schuhmeier und Lueger ein: ein „Baumeister“ – 90 Jahre später kandidiert ein Baumeister für das Amt der Bundespräsidentin … und sechs Jahre später, zum Anlaß der nächsten Wahl, wie wird überrascht in Österreich getan, als hätten sich zuvor noch nie „Clowns“ um dieses Amt beworben, aber auch, als hätten sich noch nie zuvor so viele um dieses Amt beworben; dabei war es bloß einer mehr als 2016 — Und in des Baumeisters Hütte verkündete ein für kurz gewesener Vizekanzler, das war 2019, etwas getan zu haben, gegen die Inflation …
Und dazu gehörig, seine Partei, eine Bewahrerin des permanenten … Diese und nicht nur diese hofiert, sondern auch die Partei des „alternden Baumeisters“ und des „österreichischen Streichers“ hofiert Männer, deren Ideal die „Rasse“ —
Es muß der Bruder des „österreichischen Streichers“ tatsächlich äußerst verwirrt, wie gesagt wird, gewesen sein, daß er, im kommenden Jahr werden es einhundertundzehn Jahre her sein, den „sozialdemokratischen Arbeiterführer“ Franz Schuhmeier ermordete, der sich selbst zum „Erben“ des Dr. Karl Lueger ausrief, der wie Lueger wohl auch den Test zur Aufnahme bestanden hätte, in die „Antisemitenliga“ …
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