„All unser Unglück verdankt sich der Tatsache, dass wir unsere Bäume verlassen haben.“

„Ich habe es oft gesagt: das ganze Unglück der Menschen kommt daher, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.“

Es gab immer die Verlockung, Blaise Pascal zuzustimmen, daß das ganze Unglück der Menschen daher kommt, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.

Ein Verdacht aber bestand stets, der verantwortlich dafür, der Verlockung zu widerstehen, Pascal zuzustimmen. Der Verdacht, daß bereits das Zimmer das ganze Unglück der Menschen ist. Daß das Unglück viel früher auf den Menschen gekommen ist. Das Unglück schuld daran ist, daß der Mensch überhaupt sich Zimmer zur Zuflucht baute.

„All unser Unglück verdankt sich der Tatsache, dass wir unsere Bäume verlassen haben.“

Es bedarf keiner Verlockung, Sylvain Tesson zuzustimmen, daß all das Unglück der Menschen sich der Tatsache verdankt, daß sie ihre Bäume verlassen haben.

Es ist lange her, daß Tesson „Petit traité sur l’immensité du monde“ schrieb und veröffentlichte. „Kurzer Bericht von der Unermesslichkeit der Welt“ enthält aber nicht nur diesen Satz über all das Unglück, daß sich der Tatsache verdankt, die Bäume verlassen zu haben, sondern auch einen Bericht, der an die Gegenwart denken läßt.

„Seit dem Ende der Sowjetunion gibt es in Russland zahlreiche Anwärter für das Einsiedlerleben, die dem Lauf der modernen Welt den Rücken zu kehren, und brechen auf, um verlassene Weiler oder sogar einsame Hütten neu in Besitz zu nehmen, außerhalb der Welt. Die Flucht in die Wälder bedeutet, der modernen Scheußlichkeit die kalte Schulter zu zeigen.“

„Den Russen fällt es nicht sehr schwer, in die Wälder zurückzukehren, haben sie sie doch weitaus später verlassen als die Westeuropäer. In ihrem Blut gibt es Pflanzensaft, und in ihrer gemeinsamen Geschichte die Tradition des Vagabundentums. In bestimmten literarischen Kreisen Russlands wird die (von Tolstoi übernommene) Legende kolportiert, derzufolge Zar Alexander nach seiner Abdankung nicht gestorben sein (so die offizielle Version), sondern seinen Wanderstock genommen haben soll, um inkognito durch Russland zu streifen. Und Nikita Chruschtschow? Tönte er nicht, er wolle, sollte er eines Tages in größter Not sein, gerne wie Goethes Wanderer, das heißt als romantischer Vagabund, leben?“

„Einzuwenden ist, dass die Zurückgezogenen Russlands von der Notwendigkeit und nicht vom romantischen Impuls des Waldgängers getrieben werden. Es ist eher die Aussicht, den täglichen Borschtsch mit ein paar Pfund Bärenspeck aufzubessern, als der Durst nach Transzendentalismus, der sie unter das Blätterdach führt.“

Tesson berichtet auch von einem letzten Waldgänger, den er nach seiner Rückkehr nach Irkutsk traf.

„Haben Sie das immer schon gemacht?
Das Leben in den Wäldern? Wo denken Sie hin? Ich war früher Oberst der Luftwaffe. Ich saß am Steuer von Souchoi-Maschinen. Ich war in Moskau, Berlin, Budapest!
Aber dann?
Dann brach die UdSSR zusammen, durch Gorbatschow auf den Hund gekommen. Und nach diesem Leben hatte ich das Bedürfnis nach Stille und bin hierher gekommen. Seit zwölf Jahren habe ich keinen Fuß mehr in die Stadt gesetzt und werde nie mehr in die Welt zurückkehren.
Und warum werden Sie nie zurückkehren?
Weil es hässlich ist.“

Der Oberst hätte dazu beitragen können, die Welt weniger häßlicher zu machen, oder wenigstens die Illusion zu nähren, die Welt werde weniger häßlich, als sie es bleibend wurde, hätte er, der Oberst, den Oberstleutnant an der Hand genommen, den Oberstleutnant in den tatsächlichen Wald geführt, es wäre der Welt erspart geblieben, das wenigstens, daß der Oberstleutnant auf der Suche nach seiner letzten Eremitage noch tiefer in den Wald flieht, jetzt dabei die Ukraine mit dem Wald verwechselt, wie er zuvor schon so vieles auf die häßlichste Weise verwechselte, im Wald sich immer schon wähnend, seit mehr als zwei Jahrzehnten.

PS Sylvain Tesson hat viele Auszeichnungen bekommen, die höchsten, beispielsweise auch den Prix Goncourt. Und nun hat er eine bekommen, die ihm, auch wenn er es nicht wissend missen wird, noch fehlte, die Entschuldigung. Höchststaatspersönlich überreicht von der österreichischen Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck, die sich „ganz offiziell bei allen Geografen“ dafür entschuldigte, den Kontinent Afrika zum „Land Afrika“ herabgestuft zu haben. Somit hat sich die Wirtschaftsministerin aus dem tirolerischen St. Johann auch offiziell bei Sylvian Tesson entschuldigt, der ein Geograph ist.

PPS Das Große hat Margarete Schramböck zum Kleinen gemacht. Wie sie wohl die Größe des müllnerischen Kunschak-Denkmals auf dem KL-Platz einschätzt, ihr das Kleine auch zum Großen erhoben?