Auch 507 Jahre nach der Niederschrift seines Fürsten wird gerne und oft, bei jeder sich nur irgendwie auftuenden Gelegenheit, sofort gesagt, er habe seinen Machiavelli gelesen …
Der Mann habe seinen Machiavelli gelesen, und die Frau? Nie davon gehört, nie davon gelesen, sie habe ihren Machiavelli gelesen …
Kaum betritt also ein Mann die Bühne, der sich verhält, als hätte er seinen Machiavelli gelesen, wird von ihm gesagt, er habe seinen Machiavelli gelesen.
Gemeint ist damit nie das gesamte Werk von Machiavelli, sondern stets nur das eine Buch von ihm, das bekannt ist unter dem Titel Der Fürst – Machiavelli selbst nannte es anders: „Über Fürstenherrschaft“ …
Er habe seinen Machiavelli gelesen … Auch 507 Jahre später wird das immer noch so leichthin gesagt, wie auch immer noch gesagt wird, die Sonne gehe auf, auch wenn schon lange gewußt wird, daß das Aufgehen und das Untergehen der Sonne eine täglich gewollte und dem Menschen liebe Täuschung ist, es nicht die Wirklichkeit ist, daß die Sonne aufgehe und untergehe, und so verhält es sich auch mit dem, er habe seinen Machiavelli gelesen, es verhält sich auch mit ihm ganz anders, um das zu erkennen, würde es reichen, wenn der sogenannte gesamte Machiavelli gelesen werden würde, wenn die Zeit der Niederschrift „Über Fürstenherrschaft“ gänzlich einbezogen werden würde, wenn die persönlichen Umstände von Machiavelli berücksichtigt werden würden, die ihn veranlassten, dieses Buch zu schreiben, was er sich wohl erhoffte durch die „Zueignung an den erlauchten Lorenzo Sohn des Piero von Medici“ – eine Erlösung von diesem Zustand, „wie sehr zu Unrecht ich ein großes und andauerndes Mißgeschick ertragen muß“?
Wie die Technik der Macht einzusetzen ist, nun, das war schon davor bekannt, und war auch Machiavelli bekannt, er bringt es auch reichlich durch die geschichtliche Verweise, bis hinunter zum untergegangenen Rom. Das wäre also auch ohne „Über Fürstenherrschaft“ bekannt geblieben, durch die fünfhundertundsieben Jahre, die seitdem vergangen sind. Das aber in einem Buch zu lesen, das einst als „Fürstenspiegel“ eingereiht, wird eine Überraschung gewesen sein, so wie es beispielsweise vor einem Jahr eine Überraschung gewesen sein wird, kurz gesagt, ein Video …
1520 beschäftigt sich Machiavelli noch einmal mit „Fürstenherrschaft“, und schreibt vor fünfhundert Jahren die Novelle „Das Leben Castruccio Castracanis aus Lucca“. Auffällig daran bereits die Zueignung. Die Novelle ist nicht einem „erlauchten Sohn“ zugeeignet, sondern seinen „besten Freunden“ …
Darin führt Machiavelli aus, es ist Fortuna, die Herrschaft gibt und nimmt. Ohne Fortuna also keine Herrschaft. Mag ein Mann noch so viel seinen Machiavelli lesen, ja, täglich lesen, ein Leben lang, in der Frühe, wenn die Sonne, am Abend, wenn die Sonne …
„Ich bin überzeugt, der ganze Sachverhalt rührt daher, daß Fortuna, indem sie der Welt beweisen will, daß sie es ist, die die großen Männer macht und nicht deren eigene Klugheit, zu einer Zeit ihre Kräfte spielen läßt, zu der die Klugheit auf uns noch keinen Einfluß haben kann, so daß alles ihr zu danken sein.
Castruccio Castracani aus Lucca war ein solcher Fall; und er, gemäß den Zeiten, in denen er lebte, wie auch der Stadt, in der er zur Welt kam, bewerkstelligte Größtes und war, gleich den anderen, weder glücklicherer noch bekannterer Herkunft: wie man der Betrachtung seines Lebenslaufes entnehmen wird. Dieses Leben wollte ich den Menschen in Erinnerung bringen, da ich in ihm vieles gefunden zu haben glaube, das für Tugend und Fortuna gleichermaßen ein vollkommenes Beispiel bietet. Und ich wolle es euch widmen, die ihr mehr als andere meiner Bekannten Taten von großer Tüchtigkeit zu schätzen wißt.“
Im Gegensatz von Castruccio Castrancani aus Lucca, wie von Machiavelli beschrieben, muß ein Mann fünfhundert Jahre später nichts mehr einbringen, nichts Größtes mehr bewerkstelligen, fünfhundert Jahre später braucht er nur mehr groß tüchtig in der Werbung sein, braucht er nur mehr die Tugend des Scheins vollends zu bedienen, fünfhundert Jahre später braucht er nicht nur für seine Zeit und auch hinsichtlich vergangener Epochen keine Ausnahme mehr zu sein, um …
„Auch war er bewundernswert in Antwort und Kritik, entweder scharfsinnig oder von urbaner Gewandtheit. So finden sich viele Dinge von ihm scharfsinnig formuliert.
Versäumte Castruccio nicht, sich Freunde zu machen, wann immer es ihm möglich war, indem er alle Mittel beobachtete, die nötig sind, um Menschen für sich einzunehmen.
Wie er in kürzester Zeit all die Tugenden und Umgangsformen entwickelte, die sich in einem wahren Edelmann finden müssen.
Castruccio wurde römischer Senator, und viele weitere Ehren wurden ihm durch das römische Volk zuteil. Dieses Amt nahm Castruccio unter Aufbringung größten Pompes entgegen und legte eine Toga aus Brokat an, die vorne eine Aufschrift trug, welche lautete: Er ist der, den Gott will; und auf dem Rücken: Er wird der sein, den Gott wollen wird.
Es ließen sich noch viele andere Dinge berichten, die er gesagt hat, in denen allen man Geist und Würde erkennen könnte; mir aber sollen diese als Zeugnis seiner hervorragenden Eigenschaften genügen. Er lebte 44 Jahre und war Principe, was auch Fortuna ihm beschied.“
Fünfhundert Jahre später wäre es mehr als an der Zeit, sich nicht mehr damit zu beschäftigen, das nicht mehr nachzureden, daß irgendein tüchtiger Mann der Werbung mit ihrer einzigen Tugend des Scheins seinen Machiavelli gelesen habe, sondern die Menschen sollten fünfhundert Jahre später endlich selbst den gesamten Machiavelli lesen, um zu erkennen, mit wie wenig sie sich fünfhundert Jahre später zufriedengeben, fünfhundert Jahre später sie sich eigentlich mit einem Nichts begnügen. Für das, kurz gesagt, der Name eines Mannes wie kein anderer Name beispielhaft steht.
Gerade in diesem Frühjahr ’20 mit seinen Fieberreden kann nicht darauf verzichtet werden, abschließend zu berichten, wie Fortuna die Herrschaft von Castruccio Castracanis aus Lucca wieder beendete, ihm wieder nahm, was sie ihm gegeben.
„Aber Fortuna, Feindin seines Ruhmes, nahm ihm das Leben gerade, als die Zeit gekommen war, es ihm zu gewähren, und machte den Plänen ein ende, die jener seit langem verwirklichen wollte, und die niemand anders als der Tod verhindern konnte. Castruccio hatte sich der den ganzen Tag währenden Schlacht verausgabt, als er an ihrem Ende, ganz erschöpft und schweißüberströmt, oberhalb des Tores von Fucecchio anhielt, um auf seine Leute zu warten, die aus dem siegreichen Kampf zurückkehrten, sie persönlich zu empfangen und zu danken, und sofort wieder bereit zu sein einzugreifen, wenn bei den Feinden irgend etwas geschehe, das sie irgendwo hätten neuerlichen Widerstand leisten lassen; hielt er es doch für die Pflicht eines guten Kapitäns, als erster aufzusitzen und als letzter aus dem Sattel zu gehen. So daß er, einem Wind ausgesetzt, der meist um Mittag vom Arno her aufkommt und gemeinhin der Gesundheit abträglich ist, völlig durchgefroren war; was er nicht weiter beachtete, war er doch ähnliche Strapazen gewöhnt, wurde Ursache seines Todes. Denn in der folgenden Nacht befiehl ihm ein extrem hohes Fieber; es stieg immer weiter, und da es von allen Ärzten als eine todbringende Erkrankung diagnostiziert wurde und er selber es spürte, rief er Pagolo Guinigi und sprach zu ihm mit den Worten: Wenn ich geglaubt hätte, mein Sohn, daß mir Fortuna inmitten der Lebensbahn den Weg zu jenem Ruhm abschneiden wollte, den ich mir bei so vielen glücklichen Erfolgen versprochen hätte, hätte ich mich weniger angestrengt und dir, wenn auch einen kleineren Staat,“ …
Fünfhundert Jahre später muß Fortuna nicht mehr so dramatisch auftreten, um einem Mann das wieder zu nehmen, was sie ihm gab. Es reicht vollauf, ihm ein wenig die Kraft für die Werbung zu nehmen, ihn ein bißchen weniger angestrengt werben zu lassen, und schon steht er ohne Toga in Brokat wieder da, nicht mehr als Kapitän, sitzt wieder als Ruderer im Boot …. Und das Getöse des Pompes? Das, was es im Grunde immer war: Wasserlärm durch Ruderschläge …
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