Die Pest in Zeiten der Corona

Es kann nicht ausbleiben, daß zur Literatur gegriffen wird. In Zeiten der Corona. Zur Literatur aus fernen Tagen.

Das Burgtheater holt hervor: „Das Dekameron“ von Giovanni Boccaccio.

Radio FM4 und Theater Rabenhof kommen mit „Die Pest“ von Albert Camus.

Was für eine vortreffliche Wahl.

Diese Bücher als Durchhalteparolen.

Welch ein Beistand zur seelischen und geistigen Erbauung in Zeiten der Corona.

Während Menschen, die im Freien lesen, von der Polizei in ihre Wohnungen gescheucht werden, vielleicht weil die Gefahr besteht, sie könnten Bücher lesen, die für Zeiten der Corona die falschen Bücher sind, sollen sie auf Zimmer-Küche-Kabinett jenen zuhören und zusehen dürfen, die ihnen in den Tagen der Corona die richtigen Bücher vorlesen …

„Das Dekameron“ aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, aus der Zeit also, als die Pest … und gerade diese Zeit vor rund 670 Jahren bringt den Gedanken hervor, daß für den Kardinal Christoph Schönborn ein falscher Text ausgesucht wurde. Und er wird auch mit einem falschen Hintergrund bei seinem Vorlesen gezeigt.

Die richtige Kulisse für ihn: der Judenplatz in Wien, das Haus mit der Nummer 2.

Während die einen aus „Die Pest“ von Albert Camus vorlesen, hätte es für den leitenden Angestellten des Organisierten Glaubens eine eigene Zusammenstellung von Texten bedurft, als Zwischentexte, die sich in „Die Pest“ hervorragend einfügen lassen. Jeweils vorgelesen von Christoph Schönborn, je nach einem Kapitelende oder vor je einem neuen Kapitel des Romans von Albert Camus.

Der erste Zwischentext dafür muß mit der Gegenwart beginnen, also mit dem April 2020.

Es finden sich Menschen auf den Gassen der Landstraße ein, um das Wort ihres Herrn zu verkünden. Sie überkleben mit den Worten ihres Herrn Plakate. Sie benennen die Schuldigen an der Seuche. Es sind Worte der Hoffnung. Denn. Wenn die Schuldigen verurteilt durch ihren Herrn, den Richter, wenn die Schuldigen zu Tode gebracht, wird die Seuche so rasch aus der Welt wieder sein, wie sie durch die Schuldigen in die Welt gekommen ist.

Der zweite Zwischentext vorgelesen von Christoph Schönborn, wie alle Zwischentexte von diesem leitenden Angestellten vorzulesen sind, ebenfalls ein Zwischentext zur Gegenwart, Frühling 2020.

Wie vor 125 Jahren ein „polnischer Jude“ beschuldigt wurde, eine Seuche gebracht zu haben, wird nun ein „ungarischer Jude beschuldigt, eine Seuche zu bringen. Etwa von einem Mann, zu dem etwas zu sagen, die Zeit fehlt, so kurz sind die Stunden der Zeit der Corona geworden. Aber nicht nur der Mann, von dem nicht gewußt wird, ob er im Grätzel Buda oder im Grätzel Pest wohnt, beschuldigt den „ungarischen Juden“, auch ein Magazin, von dem gewußt wird, es hat ihr Lager im Grätzel Landstraße, verbreitet die Beschuldigung des „ungarischen Juden“, belohnt dafür von der österreichischen Bundesregierung der schwarzgrünen Eintracht durch eine außerordentliche Förderung in Zeiten der Corona.

„Die Pest“ erzählt vom Jahr 1941. Dieses Jahr wird vom Erzähler zwar nicht genannt. Albert Camus erlaubt seinem Erzähler lediglich den vagen Hinweis:

„Die seltsamen Ereignisse, denen diese Chronik gewidmet ist, haben sich 194 . in Oran abgespielt.“

Aber später im Roman läßt eine Jahreszahl darauf schließen, daß sich die seltsamen Ereignisse 1941 abgespielt haben müssen:

„Vor siebzig Jahren waren in Kanton vierzigtausend Ratten an der Pest gestorben, ehe die Seuche sich mit den Menschen befaßte. Aber 1871 gab es keine Möglichkeit, die Ratten zu zählen.“

Was sich 75 Jahre nach dem Untergang des massenmörderischen deutschen reiches abspielt, ist nicht „seltsam“, sondern mannigfach ungustiös, besonders in Österreich …

„Die Pest“ wird von Albert Camus unter ein Motto gestellt, das er seinem Roman durch ein Zitat von Daniel Defoe voranstellt:

„Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas wirklich Vorhandenes durch etwas, das es nicht gibt.“

Was Albert Camus also tatsächlich erzählen wollte, ist nicht die Geschichte einer Krankheit, sondern die Geschichte von den ersten fünf Jahren der 1940er Jahre, so hat es seine Richtigkeit, daß er seinen Erzähler zu Beginn des Romans nur von „194.“ sprechen läßt.

Er erzählt also von der Hergerichtetheit und Zugerichtetheit der Gesellschaft in diesen Jahren, die über Jahrhunderte darauf vorbereitet wurde, bis schließlich einer von diesen Hergerichteten und Zugerichteten von der „geistigen Pestilenz“ stammeln konnte …

Die vom leitenden Angestellten des Organisierten Glaubens in Österreich zu lesenden Zwischentexte aus diesen Jahrhunderten haben keine Texte zur seelischen und geistigen Erbauung zu sein, sondern haben das Auflisten von Zahlen zu sein, von den Toten, die nicht an einer Krankheit gestorben sind, sondern ermordet wurden.

„Am Ende der Pestpogrome waren 300 jüdische Gemeinden vernichtet, etwa zwei Drittel aller Juden im Reich waren ermordet worden.“

Ein Zwischentext, allein zu Deutschland.

Jedoch, die Gesamtzahl der Ermordeten durch die Jahrhunderte, wer könnte sie nennen? Vielleicht der Herr des leitenden Angestellten, der doch, wie es heißt, alles weiß und alles befiehlt, so auch die „Pestpogrome“ …

Da auch nicht umfassend aufgezählt werden kann, wo überall in Europa die grauslichsten Verbrechen, die blutrünstigsten Morde, kann ein Zwischentext nur beispielhaft aufzählen, beispielsweise ein paar Dörfer in Österreich …

„Seit dem frühen 14. Jahrhundert kam es immer wieder zu lokalen Judenverfolgungen. Besonders schwerwiegend waren jene von 1349, die in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Pest standen. Unter dem Vorwand, dass die jüdischen BewohnerInnen Brunnen und Quellen vergiftet und damit die Pest verursacht hätten, um die Christenheit auszulöschen, wurden Juden und Jüdinnen in ganz Österreich verfolgt. In Feldkirch, Krems, Salzburg, Hallein, Zwettl und Braunau lassen sich Morde und Plünderungen nachweisen. Derartige Pogrome wurden in vielen Gemeinden vor dem Auftreten der Pest quasi ‚vorbeugend‘ durchgeführt.“

1349. In diesem Jahr soll Boccaccio mit seinem „Dekameron“ begonnen haben, die nun das Burgtheater zur seelischen und geistigen Erbauung …

„Da erinnerte er sich eines reichen Juden namens Melchisedech, der in Alexandrien auf Wucher lieh und nach Saladins Dafürhalten wohl imstande gewesen wäre, ihm zu helfen, aber so geizig war, daß er es aus freien Stücken nie getan hätte.“

Aus der dritten und zweiten Geschichte des ersten Tages nun dargebracht im Frühjahr 2020 …

„Dieser war eng mit einem steinreichen Juden namens Abraham befreundet, der gleichfalls Kaufmann und dabei ehrlich und unbescholten war. Wenn Jeannot nun den tadellosen Lebenswandel seines Freundes betrachtete, so ging es ihm sehr zu Herzen, daß ein so wackerer, verständiger und guter Mann verdammt sein sollte, weil der wahre Glaube ihm fehlte. So bat er ihn denn als Freund, er möge den Irrtümern des jüdischen Glaubens entsagen und zu dem allein wahren christlichen übertreten, dessen Heiligkeit und Güte sich schon durch sein fortwährendes Wachsen und Gedeihen kundgäben, während das Judentum immer mehr verfalle und seinem nahen Ende zueile.
Der Jude erwiderte, daß er keinen Glauben als allein den jüdischen für gut und heilig halte: in dem sei er geboren, in dem gedenke er zu sterben und davon werde ihn nichts jemals abbringen können. Jeannot ließ sich dadurch nicht abhalten, nach Verlauf einiger Tage auf denselben Gegenstand zurückzukommen und ihm, so gut oder auch so schlecht, wie es die Mehrzahl der Kaufleute versteht, auseinanderzusetzen, daß und warum der christliche Glaube besser ist als der jüdische. Der Jude stieg zu Pferde und eilte nach Rom, so rasch er konnte. Am Ziel angelangt, ward er von seinen Glaubensgenossen auf das ehrenvollste empfangen. Er aber begann, ohne über den Zweck seiner Reise jemandem etwas zu sagen, mit aller Vorsicht das Leben des Papstes, der Kardinäle und der übrigen Prälaten und Hofleute zu beobachten. Was er, von einem nicht gewöhnlichen Scharfblick unterstützt, selbst wahrnahm, und was er hier und da von andern erfuhr, überzeugte ihn nun bald, daß sie allesamt der Wollust, und zwar nicht nur der natürlichen, sondern auch der sodomitischen, frönten, ohne sich irgend Zaum und Zügel von Scham oder Schande anlegen zu lassen, so daß in den wichtigsten Angelegenheiten der Einfluß der feilen Dirnen und der Knaben von nicht geringer Wichtigkeit war. Außerdem fand er in ihnen insgeheim Schlemmer, Säufer, Trunkenbolde und Geschöpfe, die nach Art der unvernünftigen Tiere nächst der Wollust mehr dem Bauche als irgend etwas anderem gehorchten. Bei genauerer Betrachtung lernte er sie noch außerdem als so geizig und geldgierig kennen, daß sie mit Menschen-, ja mit Christenblut und mit den heiligsten Dingen, Opfern, geistlichen Pfründen oder welcher Art sie immer sein mochten, um Geld einen abscheulichen Handel trieben. Ärger sah er sie dabei markten und mehr Makler beschäftigen als jemals in Paris beim Verkauf der Tücher oder irgendeiner andern Ware. Offenbare Bestechung hörte er Fürsprache und unverschämte Gierigkeit Diäten nennen, als ob Gott nicht den bösen Willen im verworfenen Herzen, geschweige denn den wahren Sinn der Worte erkennte und nach Art der Menschen sich durch den Namen der Dinge täuschen ließe. Alles dies und noch manches andere, das ich besser verschweige, mißfiel unserem Juden, der ein sittenreiner und gesetzter Mann war, auf das äußerste, und da er genug gesehen zu haben glaubte, beschloß er, nach Paris zurückzukehren, und tat also.“

Zwischentexte können davon erzählen, wie die bloß geschriebenen Gewaltphantasien eines Mannes, dem 225 Jahre vor dem Vatikan die Unzulässigkeit der Todesstrafe klar war, gegen die in Wirklichkeit begangenen Gewalttaten …

„Schon bevor die Pest nach Basel kam, brach sich die Judenverfolgung Bahn. In der Weihnachtszeit 1348 wurde der jüdische Friedhof geschändet, durch den Pöbel, wie es hiess, es waren aber durchaus auch Ritter unter den Vandalen. Im frühen Januar 1349 trafen sich Vertreter der Städte Basel, Freiburg im Breisgau und Strassburg im elsässischen Belfeld, dabei wurde besprochen, wie man die Juden am besten loswerden könne. Die Obrigkeit beschloss, die Unterschicht zu einem Pogrom anzustacheln, was in der Fasnachtszeit damals besonders leicht zu bewerkstelligen war, weil dann ohnehin eine erhöhte Aggressivität herrschte. In Basel kam es zum Massenmord, noch bevor die Pest hier eintraf. Am 16. Januar 1349 trieben Banden, wieder war von Pöbel die Rede, wieder waren auch Ritter involviert, alle jüdischen Gemeindemitglieder zusammen, die sie in der Stadt finden konnten, pferchten sie in eine Holzhütte auf einer Rheininsel, die sie zu diesem Zweck gebaut hatten, und steckten diese in Brand. An die hundert Juden starben an diesem Tag. In Freiburg, Strassburg und vielen anderen Städten kam es zu ähnlichen Massakern.

„Als die Daumenschrauben nicht zu den gewünschten Geständnissen führten, zog man daraus nicht etwa den Schluss, dass die Vorwürfe abwegig, sondern dass die Daumenschrauben unzulänglich waren. Man versuchte es also mit anderen, altbewährten Methoden. So schnitt man den verdächtigen Juden die Waden auf und goss heißes Pech hinein, man verbrannte ihnen die Fußsohlen, „bis das bloße Bein zu sehen war“, wie der Chronist vermerkt, und trieb die Malträtierten unter Hieben durch die Stadt. Kein Wunder, dass die Verhörten dann doch alles gestanden, was man ihnen vorgeworfen hatte: dass sie heimlich die Brunnen vergiftet hatten mit rotem, grünem und schwarzem Pulver, dass sie dazu von einem Rabbiner angestiftet worden waren und dass überhaupt alle Juden im Alter von sieben Jahren in das Geheimwesen der Brunnenvergiftung eingeführt werden.“

Für einen Mann der Ökumene darf ein Mann nicht fehlen, für einen Zwischentext:

„Die Juden sind ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes Ding, dass sie 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen.“

Zu Beginn des Kapitels war die Rede von dem Mann der Hand, dessen Schriften nun auf den Gassen Wiens geklebt werden, wohl zur Vertreibung der Corona, der Mann der Hand ist für den Kardinal ein großer Mann, ein zu verehrender, ein anzubetender Mann. Soher mit einem Zitat für einen Zwischentext dieses Mannes der Hand soll geendet werden.

„Denn, Brüder, ihr seid Nachahmer der Gemeinden Gottes geworden, die in Judäa sind in Christus Jesus, weil auch ihr dasselbe von den eigenen Landsleuten erlitten habt, wie auch sie von den Juden, die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten getötet und uns verfolgt haben und Gott nicht gefallen und allen Menschen feindlich sind, indem sie – um ihr Sündenmaß stets voll zu machen – uns wehren, zu den Nationen zu reden, damit die errettet werden; aber der Zorn ist endgültig über sie gekommen.“

Der allerletzte Zwischentext für Christoph Schönborn in der Lesung von „Die Pest“ von Albert Camus soll eine Frage sein.

Wann meinet Ihr wurde in das Organisationshandbuch der römisch-katholischen Kirche die Feststellung

„Die Juden sind für den Tod Jesu nicht kollektiv verantwortlich.“ 

aufgenommen, vor 28 Jahren, vor 75 Jahren, vor 559 Jahren, vor 670 Jahren …