„Der Österreicher“

Es gibt Bücher, von deren Inhalten nicht gesprochen werden will, auch nicht gesprochen werden kann. Weil die in diesen Büchern geschilderte Welt schon als nur gelesene Welt eine unerträgliche, eine nicht aushaltbare, eine nicht zu verkraftende Welt ist.

Wie unerträglich, wie unaushaltbar und eine nicht zu verkraftende Welt muß diese Welt für die Menschen und vor allem für die Kinder erst sein, die in diesen geschilderten Lagern tatsächlich Tag für Tag, Nacht für Nacht tatsächlich zu leben haben, ihnen diese geschilderte Blechhüttenwelt täglich ihre wirkliche Welt ist, ein Leben lang ihre einzige Weltwirklichkeit bleibt.

„Requiem für die Schuldlosen“ von Louis Calaferte ist so ein Buch, dessen Inhalt unerträglich, nicht aushaltbar, nicht zu verkraften ist.

Es versagt, von diesem Buch sprechen zu können.

Freilich, es könnte ein Kniff angewendet werden, um doch über dieses Buch sprechen zu können, es könnte ausgewichen werden, indem über die literarischen Qualitäten dieses Buches gesprochen wird. Und es ist von höchster literarischer Qualität, mit einem üblichen Wort: Weltliteratur. Aber sein Inhalt diktiert die Verweigerung, dieses Buch literarischen Kriterien zu unterwerfen.

Um es aber nicht zu verschweigen, dieses Buch doch ansprechen zu können, fern von Lyon, hier in Österreich etwa, oder besonders hier in Österreich, ist dieses Buch doch zu gütig, hilft das Buch selbst, nicht dem Schweigen verfallen zu müssen.

Mit einem Mann, von dem in diesem Buch erzählt wird. Es ist ein Mann, dessen Geschichte im Buch wenige Zeilen ausmacht.

Mit dem Österreicher, der eine absolute Nebenfigur ist, und als Nebenfigur im Grunde nur vorkommt, weil die anderen, Kinder, sich von ihm täuschen lassen, daß er nämlich blind ist, aber lange hält die Täuschung nicht, nur für ihn selbst, den Österreicher …

„Die Tatsache, dass ein Individuum wie Lubitsch uns seine Blindheit einreden konnte, obwohl er genauso klar und deutlich sah wie jeder von uns, beeindruckte weder Schborn noch Debrer noch Lubresco, die doch nur Kinder waren. Wir dachten ganz aufrichtig, dass der Österreicher blind war, und zum Spaß führten wir ihn oft in die Irre, ohne seinen Trick zu durchschauen. Das dünne Kerlchen ließ es sich gefallen, es konnte seiner eigenen Phantasie nicht entrinnen.

Lubitsch war dennoch ein Sonderfall. Er war irgendwann bei uns gelandet und rührte sich nicht mehr weg. Er kam an einem Sommerabend, vor ihm ging ein weiß gekalkter Stock. Seine trüben grauen Augen standen offen, weit offen. Feld nahm ihn einige Monate lang bei sich auf und gab ihm zu essen, doch dann bezog er eine Blechhütte beim Brachland. Und wenn irgendeiner daran dachte, brachten wir ihm Essensreste. Ob das nun unmöglich erscheint oder nicht, Lubitsch, lebte fünf Jahre in seinem Verschlag, allein, auf einem Hocker sitzend oder auf dem Stroh liegend, und trat nur unter der Bedingung auf die Straße, dass ein Junge ihn führte.

Dass er normal war, stellten wir an dem Tag fest, an dem seine Bude Feuer fing und er ohne Hilfe hinausrannte. Als er sich durchschaut sah, antwortete er nicht auf die Fragen. Er behauptete, die Angst vor der Gefahr habe ihm das Augenlicht zurückgegeben. Und obwohl keiner daran glauben wollte, blieb er dabei.

Lubitsch war ein komischer Kauz und neigte ganz einfach dazu, sich zu kasteien. Ohne das Stigma irgendeines Leidens konnte er nicht leben. Das ging so weit, dass er sich eines Morgens, da er nicht mehr von seiner aufgeflogenen Lüge profitieren konnte, sich mit einem Gewehr aus nächster Nähe die rechte Hand wegschoss. Nachdem wir ihn blind gesehen hatten, gewöhnten wir uns daran, ihn einen hässlichen violetten Stumpf herumschleppen zu sehen. Das änderte nicht viel an seiner Existenz, außer, dass er nicht mehr von der Gemeinschaft ernährt wurde. Wenig später bedeutete uns Feltin, er sei ein Spitzel. Das brachte ihm ein gewisses Einkommen.“

Das ist alles, was über den sich blind stellenden Österreicher, über den österreichischen Spitzel in diesem Buch geschrieben wird.

Für Louis Calaferte wird es belanglos gewesen sein, woher dieser sich blind stellende Spitzel kommt, er wird sich für diesen keine Herkunft groß ausgedacht haben, der sich blind stellende Spitzel wird tatsächlich einfach aus Österreich gekommen sein, einfach wie kurz ein Österreicher. Die Beschreibung des sich blind stellenden österreichischen Spitzels in Österreich zu lesen, hat die Qualität, die grillparzerische Beschreibung des österreichischen Menschen abzulösen.

„Da stellt der Österreicher sich hin, denkt sich seinen Teil und läßt die anderen reden.“

Die Zeilen von Grillparzer, der Text eines Dichters für Stellenanzeigen, ausgeschrieben zur Anstellung des österreichischen Menschen – „stellt sich hin, läßt die anderen reden“. Franz Grillparzer schrieb also das Anforderungsprofil für den österreichischen Menschen …

Einmal noch, um zu vervollständigen, was in diesem Requiem über den „Österreicher“ geschrieben steht, kommt der sich blind stellende österreichische Spitzel vor in diesem Buch, mit diesen wenigen Zeilen …

„Am Sonntag bat auch Lubitsch, als er noch als blind galt, jemand möge ihm ein Stück Brot geben. Das Symbol der Kommunion. Meine Mutter kümmerte sich um diese besondere Nahrung. Lubitsch umarmte sie überschwänglich, zumal ein Teil des Brotes auf dem Tisch liegen blieb, was am Ende der Woche immerhin schon etwas war.“

„Der Österreicher“, der Spitzel, der sich blind stellende Bettler …