Kurz vor den Nachrichten über die Morde in Hanau noch bewegte Bilder mit Operettengesang vom Opernball

„Damit trug die musikalische Sprache der Wiener Operette ebenso zu einem ‚falschen Bewusstsein‘ bei, zu einer Scheinwelt, die weder mit der sozio- kulturellen noch mit der sozio-politischen Realität in voller Übereinstimmung war, wie auch die märchenhafte Thematisierung der literarischen Sujets einer eher wirklichkeitsfremden Einschätzung Vorschub leistete. Es entstanden Klischees, die zuweilen bis in die Gegenwart der gesellschaftichen Zusammenhänge erhalten geblieben sind.“

Um die Nachrichten nicht zu versäumen, wurde am 20. Februar 20 der Apparat zu früh eingeschaltet. In den Nachrichten dann wurde von den Morden in Hanau berichtet, begangen von einem Mann, der offensichtlich ebenfalls der Mode erlegen ist, Morde mit Manifesten vorzubereiten.

Davor aber muß ein Lied angehört werden, eines von Emmerich Kálmán, aus der Operette „Die Csárdásfürstin“, die bekannt ist auch als „The Gypsy Princess“, „La Princesse Tzigane“ …

Davor muß also ein Lied aus der „Zigeunerprinzessin“ angehört werden, mit bewegten Bildern aus der Wiener Staatsoper angesehen werden, die Menschen zeigen, ergriffen, rührselig dem Liede lauschen, die Menschen zeigen, von denen gesagt werden könnte, sie repräsentieren die sogenannte ehrenfeine Gesellschaft in Österreich, von der sogenannten Staatsspitze je nach Standplatz abwärts oder aufwärts …

Und unweigerlich fällt zu diesem Liede und zu diesen Theatergesellschaftsbildern die Arbeit „So elend und so treu“ zur Wiener Operette ein, aus der das an den Beginn des Kapitels gestellte Zitat entnommen ist.

Unweigerlich kommt dabei in den Sinn die bevorstehende Premiere des „Zigeunerbarons“ in der Volksoper und eine Schallplattenhülle von „Emerich Kalman, Richard Wagner“ aus dem Jahre 1952, wohl deshalb, weil die Darstellung der „Zigeuner“ auf diesem Cover so sehr der Darstellung gleicht, die für die Aufführung in 2020 in der Volksoper frisch gezeichnet wurde, kein Unterschied zu erkennen, als wären seit dem keine 68 Jahre vergangen … es sind in Österreich keine 68 …

Wie gut Wagner und Wiener Operette zueinander passen, der eine wie die andere so frei von — und deren tönenden Worte geliebt von …

Nach den Nachrichten über die Morde in Hanau wurde in „So elend und so treu“ gleich nachgelesen, was zur „Zigeunerprinzessin“ geschrieben wurde, und dabei blitzen immer wieder die bewegten Bilder des Opernballs 20 …

„Ebenso geschieht es in jeder einzelnen der in dieser Arbeit behandelten Operetten des Werkkanons. Ob man nun die rassige Zigeunerin Frasquita von Franz Lehár und den Librettisten Alfred Maria Willner und Heinz Reichert auf der Bühne tanzen sieht oder den schmachtenden Tassilo in der Gräfin Mariza von Emmerich Kálmán, Julius Brammer und Alfred Grünwald ‚Komm Zigan, spiel mir was vor‘ singen hört – sobald bei einer Wiener Operette von ‚Zigeunern‘ gesprochen wird, kann man davon ausgehen, dass es sicher nicht um real existierende Romgruppen im Gesamtstaat geht, sondern dass vielmehr ‚Zigeuner‘ dargestellt werden: das stereotype Fremdbild einer ethnischen Minderheit, dass im Bewusstsein der europäischen Mehrheitsgesellschaft seit dem 15. Jahrhundert basierend auf Vorurteilen und Ablehnung gegen eine Marginalgruppe gewachsen ist. Das Konstrukt ‚Zigeuner‘ prägt eine Vielzahl von Operetten. In unmittelbarer Weise natürlich in Stücken wie dem Zigeunerbaron oder dem Zigeunerprimas (Musik von Emmerich Kálmán, Libretto von Fritz Grünbaum und Julius Wilhelm), Csáky, wo das betreffende Wort ‚Zigeuner‘ schon im Titel präsent ist, aber auch in Operetten wie der Csárdásfürstin (Kálmán/Leo Stein und Bela Jenbach), wo die ‚Zigeuner‘ nur zitiert werden und sogenannte ‚Zigeunermusik‘ in die Komposition einfließt. Es erscheint also logisch zu fragen, welche besondere Position die Romgruppen in der österreichischen Gesellschaft einnahmen, sodass in der Zeit ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum ‚Anschluss‘ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland 1938 in continuo Operetten produziert wurden, in denen das Zigeunerstereotyp auf der Bühne behandelt wurde. Ob die Operette generell nur Klischees und Stereotype von allen ihren Protagonisten zeigt, scheint dabei nebensächlich, da in Hinsicht auf die Romgruppen zusätzlich ein rassistischer Aspekt augenscheinlich wird. Die Darstellung von ‚Zigeunern‘ und ‚Zigeunerkultur‘ als Betrachtungsgegenstand überwiegt an Immanenz gegenüber der Klischeedarstellung beispielsweise eines Gefängniswärters Frosch in der ‚Fledermaus‘, den man z.B. als das stereotype Abbild eines alkoholkranken österreichischen Beamten verstehen kann. Selbstverständlich sind ein Verständnis des Massenkulturphänomens ‚Operette‘, sowie auch die Erörterung der Ursprünge und Ausbildung von Zigeunerstereotypen unerlässlich bei der Beschäftigung mit der Frage nach der Konstruktion und Funktion von Zigeunerstereotypen in der Wiener Operette.

Wie sind Zigeunerstereotype in der europäischen Majorität entstanden und welche Transformation haben sie erfahren, bis sie schließlich im 19. und 20. Jahrhundert zum Gegenstand des Genres Operette wurden? Wie wurden sie eigens für diese passend gemacht? Vereinfacht ausgedrückt beschreibt dies das Spannungsfeld, in welchem sich die Thesen dieser Arbeit bewegen. Die Analyse der Stereotype, die in den jeweiligen Operetten des Werkkanons sowohl in musikalischer als auch in dramaturgischer Hinsicht relevant sind, ist dabei ebenso wegweisend wie die Auseinandersetzung mit der Funktion und den sich daraus ergebenden Folgen der stereotypen Darstellung von Romgruppen im Operetten-Theater. Gerade die Operette muss als ‚Kind ihrer Zeit‘ verstanden werden, weshalb es naheliegend ist, parallel zur Betrachtung der Ausgestaltung des Zigeunerstereotyps auf der Bühne auch einem soziologischen Aspekt Raum zu geben und die Position von Romgruppen in der Gesellschaft der Doppelmonarchie näher zu untersuchen. Hierbei kann von der Frage ausgegangen werden, warum es für die Mehrheitsgesellschaft interessant gewesen sein könnte, in diesem volksnahen Genre überhaupt einen Fokus auf das Stereotyp ‚Zigeuner‘ zu setzen. Wenn man den ‚Zigeuner‘ als persona non grata des Vielvölkerstaates begreift, scheint es berechtigt, sich zu überlegen, warum der ‚Outcast‘ zum Gegenstand einer kommerziellen Unterhaltungsindustrie wurde, was die Operette zu Zeiten ihrer Hochkonjunktur ja de facto war. Aus dieser Überlegung erschließt sich recht geradlinig, warum nicht ein authentisches Bild der Marginalgruppe, sondern ein verzerrtes und verkitschtes Klischeebild, ein ‚Zigeunerbild‘ präsentiert wurde. Die Missstände, in denen die Romgruppen teilweise bzw. überwiegend lebten, wurden ebenso außer Acht gelassen wie die Tatsache, dass die meisten Romgruppen zur Zeit der Entstehung der hier kanonisierten Operetten schon fast zur Gänze sesshaft und an die Mehrheitsgesellschaft angegliedert waren und nicht im sprichwörtlich gewordenen ‚grünen Wagen‘ durch die Lande zogen. Die Realität war aber nicht umfassend publikumstauglich, und deshalb wurde sie für die Operettenbühne entsprechend beschönigt. Davon ausgehend lässt die schon angesprochene Tendenz zur Couleur locale, die in der Kunst der Romantik immer wieder als Folie für die eigene Gesellschaft diente, eine Art ‚Zigeuner-Mode‘ denkbar werden, die sowohl musikalisch als auch dramaturgisch den Geschmack des Publikums rund um das Fin de siécle traf.

Bei genauerer Betrachtung scheint dies allerdings eine zu einfache Antwort auf die Frage, warum der ‚Zigeuner‘ überhaupt in der Operette auftaucht. Die Art und Weise, wie in Handlung und Komposition mit ‚Zigeunerischem‘ verfahren wird, lässt vielmehr darauf schließen, dass die Zigeunerstereotype in der Gesellschaft so obligat waren, dass sie nicht zuletzt vom Publikum der Wiener Operette für bare Münze genommen wurden. Die Funktion des Zigeunerstereotyps mag also, in Ansätzen und sehr vereinfacht formuliert, Ausdruck einer gewissen Mode oder vielmehr einem großösterreichischen Eskapismus entsprechen; seine Konstruktion hingegen ist mehr als eine Mode: sie ist das Produkt einer jahrhundertelangen Ausgrenzung und Verfolgung von Romgruppen durch die Mehrheitsgesellschaft in Europa, die in der Wiener Operette weiterlebt.

Die akribische Konstruktion des Zigeunerstereotyps, die in der Mehrheitsgesellschaft über Jahrhunderte hinweg stattfand, ist also conditio sine qua non für die Funktion, die diesem in der Operette zukommt. Es geht hier nicht in erster Linie darum, den Konflikt zwischen zwei differierenden Gesellschaftsformen darzustellen, wie das etwa in stereotypisierenden Operetten wie beispielsweise dem Land des Lächelns (Lehár/Herzer, Löhner-Beda, Léon) oder der Blume von Hawaii (Ábráham/Flödes, Grünwald, Löhner-Beda) der Fall sein mag. Bei den Wiener Operetten, die in irgendeiner Weise ‚Zigeuner‘ zitieren oder darstellen, ist davon auszugehen, dass das Stereotyp ein gewichtiger Teil des Gedankenguts der Gesellschaft war, in der sie entstanden sind.

Von Rassismus zu sprechen, bedeutet hier sowohl den Sozialchauvinismus der österreichischen Majorität im 19. und frühen 20. Jahrhundert mitzudenken als auch eine lange Kette von Stereotypenbildung miteinzubeziehen. Die Konstruktion des Zigeunerstereotyps in der Wiener Operette ist ergo nur die ‚Spitze des Eisbergs‘, ein Zeuge davon, dass noch in der Moderne immer wieder unreflektiert auf Stereotype zurückgegriffen wird, die in der Gesellschaft seit mehreren Jahrhunderten bestehen. Dass diese Stereotype nicht hinterfragt wurden und sich über die Zeit ihres Bestehens nur geringfügig verändert haben, lässt die Lücke zwischen der dargestellten und der tatsächlichen Realität zur Entstehungszeit der Wiener Operetten immens werden. Interessant wird diese Tatsache, wenn man sich des Charakters der Operette bewusst wird, die als ein Genre zu verstehen ist, dass sich dezidiert mit gesellschaftlichen Belangen und Problemen ihrer Zeit auseinandersetzt.

Ein Beispiel: In der Csárdásfürstin, die ihre Premiere 1915, also mitten im Ersten Weltkrieg erlebte, wird sowohl eben dieser Weltkrieg und die Haltung der Gesellschaft zum Krieg, die Rolle der modernen, sich emanzipierenden Frau als auch die Borniertheit der österreichischen Aristokratie in der untergehenden Habsburgmonarchie thematisiert. Brandaktuelle Themen also, mit denen sich das Publikum täglich auseinandersetzte. Gleichzeitig wird der ‚Zigeuner‘ dargestellt, wie es ihn, wenn überhaupt je, 1915 sicher nicht gegeben hat: als höriger Musikant, der in einer Art zufriedener Abhängigkeit zur Mehrheitsgesellschaft aufspielt und diese mit einem ‚Feuercsárdás‘ auf andere Gedanken bringt. Der Csárdás, das Aufspielen für den ‚Gadzo‘ (das Romanes-Wort für den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft), die Stilisierung zum käuflichen Dienstleister – all dies sind Auswüchse des tradierten Zigeunerstereotyps.“