30 Jahre, Erinnerung an eine Rede

Die Rede vom damaligen Bundeskanzler Dr. Franz Vranitzy im österreichischen Parlament vor dreißig Jahren wird als eine historische eingestuft, eine allseits gelobte Rede bis zum heutigen Tag herauf.

Es ist unbestritten, dass Österreich im März 1938 Opfer einer militärischen Aggression mit furchtbaren Konsequenzen geworden war. Die unmittelbar einsetzende Verfolgung brachte Hunderttausende Menschen unseres Landes in Gefängnisse und Konzentrationslager, lieferte sie der Tötungsmaschinerie des Nazi-Regimes aus, zwang sie zur Flucht und Emigration. Hunderttausende fielen an den Fronten oder wurden von den Bomben erschlagen. Juden, Zigeuner, körperlich oder geistig Behinderte, Homosexuelle, Angehörige von Minderheiten, politisch oder religiös Andersdenkende – sie alle wurden Opfer einer entarteten Ideologie und eines damit verbundenen totalitären Machtanspruchs. Dennoch haben viele Österreicher den „Anschluss“ begrüßt, haben das nationalsozialistische Regime gestützt, haben es auf vielen Ebenen der Hierarchie mitgetragen. Viele Österreicher waren an den Unterdrückungsmaßnahmen und Verfolgungen des Dritten Reichs beteiligt, zum Teil an prominenter Stelle. Über eine moralische Mitverantwortung für Taten unserer Bürger können wir uns auch heute nicht hinwegsetzen. Vieles ist in den vergangenen Jahren geschehen, um, so gut dies möglich war, angerichteten Schaden wieder gut zu machen, angetanes Leid zu mildern. Vieles bleibt nach wie vor zu tun, und die Bundesregierung wird auch weiterhin alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um jenen zu helfen, die von den bisherigen Maßnahmen nicht oder nicht ausreichend erfasst oder bisher in ihren moralischen oder materiellen Ansprüchen nicht berücksichtigt wurden.

Das ist die wortwörtliche Abschrift des vom „Wissensnetz Österreich“ veröffentlichten Teils der Rede, die Altbundeskanzler Dr. Franz Vranitzy am 8. Juli 1991 im Parlament der Republik Österreich hielt.

Auffallend an diesem Zitat des Wissensnetzes Österreich, wie es am 21. November 2021 auf seiner Website gelesen werden kann, ist Anschluß in Anführungszeichen gesetzt. Im stenographischen Protokoll des österreichischen Parlaments der Rede von Franz Vranitzky vom 8. Juli 1991 gibt es keine Kennzeichnung von Anschluß durch Anführungszeichen.

Woher nimmt das Wissensnetz Österreich die Anführungszeichen? Aus dem Rede-Manuskript des Dr. Franz Vranitzky? Hatte er in seinem Manuskript Anführungszeichen gesetzt, aber diese in seinem parlamentarischen Vortrag nicht verdeutlicht, so daß die Anführungszeichen nicht in das parlamentarische Protokoll aufgenommen werden konnten? Oder ist es, das eher angenommen werden darf, eine eigenmächtige Veränderung der Rede des Franz Vranitzky durch das Wissensnetz Österreich? Eine eigenmächtige Setzung von Anführungszeichen, die Franz Vranitzky nicht setzte? Und wenn es ein eigenmächtiges Anbringen von Anführungszeichen durch das Wissensnetz ist, weshalb setzt das Wissensnetz nicht auch Zigeuner in Anführungszeichen?

Vor dreißig Jahren, am 8. Juli 1991, spricht Dr. Franz Vranitzky von „Zigeunern“ – in seiner historischen, in seiner in diesem Land allseits hochgelobten Rede …

Hatte er in seinem Rede-Manuskript Zigeuner in Anführungszeichen gesetzt? Anführungszeichen, die den Protokollierenden der Rede im Parlament entgangen sind, und deshalb nicht im Rede-Protokoll des Parlaments angeführt sind?

Jedoch. Filmaufnahmen der Rede von Dr. Franz Vranitzky im Parlament am 8. Juli 1991 lassen nicht den Schluß zu, er hätte in seinem Manuskript, das er verlas, Anführungszeichen gesetzt, weder Zigeuner noch Anschluß in Anführungszeichen gesetzt, keine Geste, kein Zeichen bei seinem Aussprechen von „Zigeuner“ und „Anschluß“ deutet daraufhin, daß in seinem Manuskript die zwei Wörter in Anführungszeichen gesetzt sind.

Es darf also mehr davon gesprochen werden, daß es eine eigenmächtige Verfremdung der Rede von Franz Vranitzky durch das Wissensnetz Österreich ist, und dies macht auch ein weiteres Mal die Lage der Menschen deutlich, die noch dreißig Jahre später so selbstverständlich wie bedenkenlos „Zigeuner“ genannt werden, wie es vor dreißig Jahren für Franz Vranitzky selbstverständlich und bedenkenlos war, sie ebenfalls …

Im nächsten Kapitel werden die eigenmächtig gesetzten Anführungszeichen und die eigenmächtig nicht gesetzten Anführungszeichen noch einmal zur Sprache kommen, im wesentlicheren Zusammenhang mit Bildung, was in der Schule in Österreich gelehrt wird.

Vielleicht wird es noch ein weiteres Kapitel geben. Denn. Dies ist nicht die einzige Auffälligkeit in der Rede von Franz Vranitzky, die es verdient, hervorgehoben zu werden … aber, vielleicht auch nicht.