Ich erfahre aus den Zeitungen und dem Fernsehen, daß ein zehn Jahre altes türkisches Kind vor Kälte und Erschöpfung gestorben ist, als seine Eltern mit ihm heimlich die […] Grenze überquert haben. Die „Schlepper“ hatten sie in Grenznähe allein gelassen. Sie brauchten nur geradeaus zu gehen bis zum ersten […] Dorf. Sie gingen viele Stunden lang durch Wald und Gebirge. Es war kalt. Am Schluß trug der Vater das Kind auf dem Rücken. Aber es war schon zu spät. Als sie ins Dorf kamen, war das Kind vor Müdigkeit, Kälte und Erschöpfung gestorben.
Meine erste Reaktion ist die jedes beliebigen […]: „Wie können sich Leute mit Kindern auf solche Geschichten einlasssen? Ein so unverantwortliches Verhalten darf nicht hingenommen werden.“ Der Gegenschlag ist heftig und unmittelbar. Ein kalter Novemberwind fährt in mein gut geheiztes Zimmer, und in mir erhebt sich bestürzt die Stimme meines Gedächtnisses: „Wie? Hast du etwa alles vergessen? Du hast das gleich getan, genau das gleiche. Und dein Kind war fast noch ein Neugeborenes.“
Ja, ich erinnere mich.
Ich bin einundzwanzig. Seit zwei Jahren bin ich verheiratet, und ich habe eine kleine Tochter von vier Monaten. An einem Novemberabend überqueren wir die Grenze zwischen Ungarn und Österreich, geführt von einem „Schlepper“. Er heißt Joseph, ich kenne ihn gut.
Wir sind eine Gruppe von etwa zehn Personen, darunter einige Kinder. Meine kleine Tochter schläft in den Armen ihres Vaters, ich trage zwei Taschen. In der einen Tasche sind Fläschchen, Windeln, Kleidung zum Wechseln für das Baby, in der anderen Tasche Wörterbücher. Wir gehen ungefähr eine Stunde schweigend hinter Joseph her. Es herrscht fast vollkommene Finsternis. Manchmal wird alles von Leuchtraketen und Scheinwerfern erhellt, man hört Geknalle, Schüsse, dann kehren Stille und Finsternis zurück.
Am Waldrand bleibt Joseph stehen und sagt zu uns:
„Ihr seid in Österreich. Ihr braucht nur geradeaus weiterzugehen. Das Dorf ist nicht weit.“
Ich umarme Joseph. Alle geben wir ihm das Geld, das wir besitzen, in Österreich würde dieses Geld sowieso wertlos sein.
Wir gehen durch den Wald. Lange. Zu lange. Zweige zerkratzen uns das Gesicht, wir fallen in Löcher, modriges Laub macht unsere Schuhe naß, über Wurzeln stolpernd verstauchen wir uns die Knöchel. Ein paar Taschenlampen brennen, aber sie erhellen nur kleine Flecken, und Bäume, immer noch Bäume. Wir hätten aber schon aus dem Wald herauskommen müssen. Wir haben den Eindruck, uns im Kreis zu drehen.
Ein Kind sagt: „Ich habe Angst. Ich will wieder heim. Ich will ins Bett.“
Ein anderes Kind weint. Eine Frau sagt: „Wir sind verloren.“ Ein junger Mann sagt: „Laßt uns anhalten. Wenn wir so weitergehen, kommen wir wieder nach Ungarn. wenn wir da nicht schon sind. Rührt euch nicht. Ich schaue nach.“
Wieder nach Ungarn kommen, wir wissen alle, was das bedeutet. Gefängnis wegen illegalen Grenzübertritts, und vielleicht sogar betrunkende russische Grenzposten, die auf uns schießen.
Der junge Mann klettert auf einen Baum. Als er wieder herunterkommt. sagt er: „Ich weiß, wo wir sind. Ich habe mich an den Lichtern orientiert. Folgt mir.“ Wir folgen ihm. Bald lichtet sich auch der Wald, und wir gehen endlich auf einem richtigen Weg, ohne Zweige, ohne Löcher, ohne Wurzeln.
Plötzlich werden wir hell angestrahlt, eine Stimme sagt: „Halt!“ Einer von uns sagt auf deutsch: „Wir sind Flüchtlinge.“ Die österreichischen Grenzposten erwidern lachend: „Das dachten wir uns. Kommen Sie mit.“ Sie führen uns auf den Dorfplatz. Dort ist schon eine ganze Schar von Flüchtlingen. Der Bürgermeister kommt: „Die, die Kinder haben, sollen vortreten.“ Wir wir werden bei einer Bauernfamilie untergebracht. Sie sind sehr nett. Sie kümmern sich um das Baby, sie geben uns zu essen, sie geben uns ein Bett.
Merkwürdig ist, wie wenig ich von all dem in Erinnerung behalten habe. Es ist, als hätte sich alles in einem Traum abgespielt, oder in einem anderen Leben. Als weigerte sich mein Gedächtnis, sich an diesen Moment zu erinnern, in dem ich einen großen Teil meines Lebens verloren habe. Ich habe mein in Geheimschrift geschriebenes Tagebuch und auch meine ersten Gedichte in Ungarn zurückgelassen. Ich habe meine Brüder, meine Eltern zurückgelassen, ohne ihnen Bescheid zu sagen, ohne ihnen Lebewohl oder auf Wiedersehn zu sagen. Vor allem habe ich an jenem Tag, an jenem Tag Ende November […], endgültig meine Zugehörigkeit zu einem Volk verloren.
Es gibt in „Die Analphabetin“ von Agota Kristof das Kapitel „Das Gedächtnis“ und noch weitere Kapitel — „Displaced Persons“, „Die Wüste“ –, die ebenso im Gesamten zu zitieren gehörten. Aus denen zu erfahren ist, daß es einerseits für die zwei jungen Menschen mit ihrem Kleinkind gut ausging, sie aufgenommen wurden, sie zurechtkamen, andererseits nicht für alle aus dieser Gruppe, die aus Ungarn flüchten mußten, es so gut verlief, manche freiwillig aus dem Leben schieden …
Das Gedächtnis wird ständig bemüht, aus dem Gedächtnis wird ständig die bald sieben Jahrzehnte alte Bereitschaft, Menschen auf der Flucht aufzunehmen, geholt, es wird ständig angeführt, als den Flüchtlingen aus Ungarn geholfen wurde, wenn es darum geht, Menschen auf der Flucht die Aufnahme in Österreich zu verweigern, als wäre mit der Aufnahme der ungarischen Flüchtlinge ein für alle Mal, in alle Ewigkeit, das österreichische Soll erfüllt worden, das österreichische Soll der Gesetzeseinhaltungen erfüllt worden, Menschen auf der Flucht aufzunehmen.
Und nun?
Das wird von dem bald sieben Jahrzehnte später Österreichischen im Gedächtnis bleiben: das nehammersche Österreich, das orbánsche Ungarn, oder das orbánsche Österreich, das nehammersche Ungarn oder das nehammersch-orbánsche Ungarn und das nehammersch-orbánsche Österreich, oder einfach wie kurz: das NO-Österreich und das NO-Ungarn, oder, noch schlichter wie kurz: das NO-Österreich-Ungarn …

Von dem kleinen österreichischen Dorf, in das wir aus Ungarn kommend gelangt sind, fahren wir mit dem Bus nach Wien. Der Bürgermeister des Dorfes bezahlt unsere Fahrscheine. Während der Reise schläft mein Töchterchen auf meinem Schoß. Am Straßenrand ziehen Leuchtpfosten vorüber. Ich habe noch nie Leuchtpfosten gesehen.
In Wien angekommen, finden wir eine Polizeiwache, wo wir uns melden. Dort im Büro wickle ich mein Baby und gebe ihm die Flasche. Es spuckt. Die Polizisten geben uns die Adresse eines Flüchtlingszentrums und zeigen uns die Straßenbahn, die uns umsonst dorthin bringen wird. In der Straßenbahn nehmen gutgekleidete Damen mein Baby auf ihren Schoß, stecken mir Geld in die Tasche.
[…]
Weihnachten naht, als wir den Zug in die […] nehmen. Auf dem Fensterbrett liegen Tannenzweige, Schokolade und Orangen. Es ist ein Sonderzug. Außer den Begleitpersonen sind nur Ungarn darin, und der Zug hält erst an der […] Grenze. Dort empfängt uns eine Blaskapelle, und freundliche Damen reichen uns Becher mit heißem Tee, Schokolade und Orangen durchs Fenster.
[…]
Diejenigen unter uns, die schon einmal eine ähnliche Situation erlebt haben, werden später gestehen, daß sie Angst hatten. Danach sind wir alle erleichtert, uns und vor allem, sauber und bereits gefüttert, unsere Kinder wiederzufinden. Meine kleine Tochter schläft ruhig in einer schönen Wiege, wie sie noch nie eine gehabt hat, neben meinem Bett.
[…]
Wie wäre mein Leben gewesen, wenn ich mein Land nicht verlassen hätte? Härter, ärmlicher, denke ich, aber auch weniger einsam, weniger zerrissen, vielleicht glücklich.
[…]
Vom […] Flüchtlingszentrum aus werden wir über die ganze […] „verteilt“. So kommen wir durch Zufall nach N[…], genauer nach V[…], wo uns eine von den Dorfbewohnern möblierte Zweizimmerwohnung erwartet. Ein paar Wochen später beginne ich in einer Uhrenfabrik in F[…] mit der Arbeit.
[…]
Hier beginnt die Wüste. Soziale Wüste, kulturelle Wüste. Auf die Erregung der Tage der […] und der Flucht folgen die Stille, die Leere, die Sehnsucht nach den Tagen, als wir den Eindruck hatten, an etwas Wichtigem, vielleicht Historischem teilzunehmen, das Heimweh, das Vermissen der Familie und der Freunde.
Wir erwarteten etwas, als wir hier ankamen. Wir wußten nicht, was wir erwarteten, aber sicher nicht das: diese tristen Arbeitstage, diese stillen Abende, dieses erstarrte Leben, ohne Abwechslung, ohne Überraschung, ohne Hoffnung. Materiell leben wir ein bißchen besser als vorher. Wir haben zwei Zimmer anstatt einem. Wir haben genug Kohlen und ausreichend Nahrung. Doch im Vergleich zu dem was wir verloren haben, ist das zu teuer bezahlt.
Im Bus am Morgen setzt sich der Schaffner neben mich, morgens ist es immer derselbe, ein dicker, fröhlicher, er redet die ganze Fahrt über mit mir. Ich verstehe ihn nicht sehr gut, ich verstehe aber, daß er mich beruhigen will, indem er mir erklärt, daß die […] den […] nicht erlauben werden, bis hierher zu kommen. Er sagt, daß ich keine Angst mehr haben soll, daß ich nicht mehr traurig sein soll, daß ich jetzt in Sicherheit bin. Ich lächle, ich kann ihm nicht sagen, daß ich keine Angst vor den […] habe, und wenn ich traurig bin, dann eher wegen meiner jetzigen zu großen Sicherheit, und weil ich nichts anderes tun und denken kann, als Arbeit, Fabrik, Einkaufen, Waschen, Kochen und auf nichts anderes warten kann als auf die Sonntage, um ein bißchen länger zu schlafen und von meinem Land zu träumen.
Wie soll ich ihm, ohne ihn zu kränken und mit den wenigen Wörtern, die ich auf […] kann, erklären, daß sein schönes Land für uns, die Flüchtlinge, nur eine Wüste ist, eine Wüste, durch die wir hindurch müssen, um zu dem zu kommen, was man „Integration“, „Assimilation“ nennt. In diesem Moment weiß ich noch nicht, daß manche nie so weit kommen werden.
Zwei von uns sind nach Ungarn zurückgekehrt, trotz der Gefängnisstrafe, die sie dort erwartete. Zwei andere, junge, unverheiratete Männer, sind weiter weg gegangen […] Vier andere noch weiter weg, so weit man gehen kann, über die große Grenze. Diese vier Personen aus meinem Bekanntenkreis haben sich in den ersten beiden Jahren unseres Exils umgebracht. Eine mit Schlafmitteln, eine mit Gas und zwei mit dem Strick. Die jüngste war achtzehn. Sie hieß Gisela.
Im Gedächtnis muß bleiben, was bald sieben Jahrzehnte später Othmar Karas, Mitglied der Partei des zurzeitigen Bundeskanzlers, wird sagen müssen, in der Pressestunde am 12. Februar 1934 – oh, was für ein Verschreiber, was Othmar Karas am 12. Februar 2023 sagen wird müssen — Und eigentlich gehörte ebenfalls alles, was Othmar Karas am 12. Februar ’23 dazu sagen muß, zitiert —
Sie haben jetzt ein großes Thema auf eine einzige Frage reduziert. […] Der Zaun ist eine Einzelmaßnahme, auf die wird ein Thema reduziert, das nicht auf das reduzierbar ist. Ich sage Ihnen, ein Zaun kann nicht sprechen, ein Zaun gibt keine Antworten, ein Zaun registriert nicht. Ich weiß nicht, ob Sie bei sich zu Hause, bei Ihrer Wohnung oder bei einem Haus, einen Zaun haben. Wahrscheinlich schon. Aber Ihr Zaun hat eine Tür, Ihr Zaun hat eine Glocke, Ihr Zaun hat vielleicht eine Überwachungskamera, vielleicht ein Sprachnetzwerk, auch im Mittelalter hatte eine jede Festung eine Zugbrücke. Ich sage schon ganz klar, ich bin nicht bereit, das Thema Flucht und Migration auf einen Zaun zu reduzieren. […]
Ich bedauere die Kommunikation in Österreich im Umgang mit den Ergebnissen des Gipfels. Ich bedauere die Reduzierung auf Asyl-Stopp, den es nicht gibt, Asyl-Bremse, die es nicht gibt, es gibt nur ein Asyl-Recht. Ich halte das für falsch, ich habe das immer für falsch gehalten.
Petra Stuiber: Das heißt, Sie sind enttäuscht von Bundeskanzler Nehammer […]
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