Kathrine Kressmann Taylor läßt in ihrem Briefroman Martin Schulse am 12. Februar 1934 an Max Eisenstein schreiben: „Max, mein alter Freund“ …
Nun ist Max wieder sein „alter Freund“, nachdem er von Max nichts mehr wissen wollte, Max verboten hat, ihm weiter Briefe zu schreiben, nachdem er der Schwester von Max, mit der Martin einmal eine „stürmische Affäre“ hatte, nicht geholfen hat, die Schwester von Max ermordet ist, schreibt Martin Schulse am 12. Februar 1934:
Max, mein alter Freund, mein Gott, Max, weißt Du überhaupt, was Du anrichtest? […] Ich schreibe diese Bitte an Dich aus einer Verzweiflung heraus, die Du Dir nicht vorstellen kannst. […] Diese Briefe, die Du mir geschickt hast. Ich werde ihretwegen zur Rechenschaft gezogen. Die Briefe werden mir nicht zugestellt, sondern ich werde aufs Amt zitiert. […] Wie kannst Du, ein langjähriger Freund, mir das antun? Begreifst Du eigentlich, hast Du irgendeine Vorstellung davon, daß Du mich zugrunde richtest? Schon jetzt zeitigt Dein Wahnsinn schreckliche Folgen. Ich bin harsch aufgefordert worden, von meinem Amt zurückzutreten. […] Und Elsa, der ich nicht ein Wort davon zu sagen wage, ist bestürzt, weil die Parteimitglieder ihre Einladungen ablehnen und Baron Freische nicht mit ihr spricht, wenn sie sich auf der Straße begegnen. Ja, ja, ich weiß, warum Du so handelst – aber verstehst Du denn nicht, daß ich nichts machen konnte? Was hätte ich tun können? Ich habe mich nicht einmal getraut, es auch nur zu versuchen. Ich bitte Dich inständig, nicht meinethalben, aber wegen Elsa und der Kinder – denk daran, was es für sie bedeutet, wenn ich verhaftet werde und sie im ungewissen sind, ob ich lebe oder tot bin. Weißt Du, was es heißt, in ein Konzentrationslager gebracht zu werden? Willst Du, daß ich vor die Wand gestellt werde und sich die Gewehrläufe auf mich richten? Ich flehe Dich an, hör auf damit. Mach dem ein Ende, solange noch nicht alles zerstört ist. Ich fürchte um mein Leben, Max, um mein Leben. Bist Du es, der das tut? Das kannst nicht Du sein. Ich habe Dich wie einen Bruder geliebt, mein alter Max. Mein Gott, hast Du kein Mitleid? Ich bitte Dich, Max, hör auf damit, hör auf damit! Beende es, solange es mich für noch Aussicht auf Rettung besteht. Ich bitte Dich von ganzem Herzen und aus alter Freundschaft darum.
Wer da um sein Leben fleht, ist ein Nationalsozialist. Aber er fleht den falschen Menschen an, er fragt den falschen Menschen, ob er wisse, was er anrichte, er appelliert an den falschen Menschen, damit aufzuhören, das zu beenden. Denn. Max schickt bloß Briefe an Martin nach Deutschland, aus Kalifornien. Wer aber Martin in das Konzentrationslager nur bringen kann, wer aber Martin nur umbringen kann, das ist einzig seine Kameraderie der Partei des Österreichers, so wie sein nationalsozialistischer Haufen die Schwester von Max umgebracht hat. Darüber schreibt Martin am 8. Dezember 1933 an Max:
Heil Hitler! Ich bedaure sehr, Dir schlechte Nachrichten übermitteln zu müssen. Deine Schwester ist tot. Unglücklicherweise war sie – so wie Du selbst gesagt hast – wirklich verrückt. Vor knapp einer Woche kam sie hier an, verfolgt von einem Haufen SA-Leuten. Bei uns ging es sehr hektisch zu – seit der Geburt des kleinen Adolf im letzten Monat steht es um Elsas Gesundheit nicht zum besten. […] Wie der Zufall es will, bin ich es, der die Tür öffnet. Erst denke ich, eine alte Frau stünde vor mir, doch dann schaue ich ihr ins Gesicht, und dann sehe ich, daß die SA gerade durch das Parktor gerannt kommt. Kann ich sie verstecken? Die Chancen stehen eins zu tausend. Jeden Moment kann einer der Angestellten herbeieilen. Kann ich es verantworten, daß das Haus durchsucht wird, während Elsa krank im Bett liegt? Kann ich es wirklich riskieren, festgenommen zu werden und alles zu verlieren, was ich hier aufgebaut habe, weil ich einer Jüdin Unterschlupf gewähre? Natürlich habe ich als Deutscher eine unmißverständliche Pflicht. Sie hat auf der Bühne ihren jüdischen Körper vor reinen, jungen deutschen Männern zur Schau gestellt. Ich sollte sie festhalten und dem SA-Trupp übergeben. Aber das bringe ich nicht über mich. „Du wirst uns alle ins Verderben stürzen, Griselle“, sage ich zu ihr. „Lauf zurück, tiefer in den Park hinein.“ Sie schaut mich an, lächelt (sie war immer ein tapferes Mädchen) und trifft ihre eigene Entscheidung. „Ich will dir keinen Schaden zufügen, Martin“, sagt sie und rennt die Stufen hinunter und dann auf die Bäume zu. Aber sie muß müde gewesen sein. Sie läuft nicht sehr schnell, und die Männer der SA haben sie entdeckt. Ich bin hilflos. Ich gehe ins Haus, und nach wenigen Minuten hört sie auf zu schreien. Am nächsten Morgen habe ich den Leichnam ins Dorf zur Beisetzung bringen lassen. Es war verrückt von ihr, [von Wien] nach Deutschland zu kommen. Arme kleine Griselle. Ich trauere mir Dir, aber wie Du sehen kannst, war ich außerstande, ihr beizustehen.
Ich muß Dich nun ernsthaft bitten, keinen Kontakt mehr mit mir aufzunehmen. Jedes Schreiben, das zu Hause eintrifft, wird von der Zensur geprüft, und ich vermag nicht zu sagen, wann sie beginnen, auch die Briefe an die Bank zu öffnen. Und ich werde auch keine Geschäfte mehr mit Juden machen, mit Ausnahme der Geldeingangsbestätigung [aus der in den USA gemeinsam betriebenen Kunstgalerie]. Es ist für mich nicht gut, daß eine Jüdin zu mir geflüchtet ist, um Unterschlupf zu finden. Weitere Verbindungen sind inakzeptabel. Ein neues Deutschland beginnt Gestalt anzunehmen. Unter unserem glorreichen Führer werden wir der Welt bald großartige Dinge zeigen.
Wie schnell Freundschaften zerbrechen. Der erste Brief von Max Eisenstein an Martin Schulse ist datiert mit dem 12. November 1932, der letzte von Martin Schulse an Max Eisenstein mit dem 12. Februar 1934. Wie schnell Freundschaften zerbrechen, auch solche, die durch ein gemeinsames Geschäft mehr abgesichert zu sein scheinen, sogar solche, die dem Freundschaft aufkündigenden Menschen Geldeinnahmen bescheren, auf die er trotz aufgekündigter Freundschaft dennoch nicht verzichten will …
Und wer hat nicht von Freundschaften, von Familien in der Zeit der Pandemie, die neunzig Jahre später seit ihrem Ausbruch nicht einmal vier Jahre her ist, gehört, die ebenso rasch …
Mehr als die zerbrochene Freundschaft, mehr als die ermordete Griselle, mehr als der Mord an Martin durch seine Partei, deren österreichischer Anführer, ein kleiner Gefreiter und Namensgeber für Martins Sohn, ist in diesem Briefroman von Interesse, wie rasch es dazu kam, ist von Interesse, weil es nicht zu diesen Morden hätte kommen müssen. Wenn —
Am 10. Dezember 1932 schreibt Martin in seinem ersten Brief an Max:
Hochwertige Lebensmittel sind ausgesprochen teuer, und es gibt politische Unruhene, selbst jetzt noch, unter der Präsidentschaft Hindenburgs, eines feinsinnigen Liberalen, den ich sehr bewundere.
Diese Fehleinschätzung, diese Täuschung, wohl auch willkommene Selbsttäuschung, zu was „feinsinnige Liberale“ imstande und nicht imstande sind, sie werden „großartige Dinge“ zu verhindern wissen, und wohl auch schon gepaart mit Verlockungen zum eigenen Fortkommen. Martin schreibt unmittelbar anschließend an seine Bewunderung für den „feinsinningen Liberalen“:
Alte Bekannte beginnen mich bereits zu bedrängen, ich solle mich für ein Amt in der Stadtverwaltung zur Verfügung stellen. Dieses Ansinnen will ich gern bedenken, denn es könnte uns hier von Nutzen sein, wenn ich mich in öffentlichen Angelegenheiten engagierte. Was Dich angeht, mein guter Max, wir haben Dich allein gelassen, aber Du darfst kein Misantrhop werden. Sieh zu, daß Du schnell eine nette, dicke, kleine Frau findest, die sich um Dein Wohlergehen kümmert und Dich fleißig bekocht, bis sich Deine Laune wieder aufheitert.
Martin ermahnt Max, er dürfe kein „Misantrhop“ werden, und Martin weiß zu diesem Zeitpunkt schon, adressiert nicht an sich selbst, was aus ihm werden wird, in kürzester Zeit: ein Menschenfeind … Und wie hergerichtet und zugerichtet Martin und seine Frau zu diesem Zeitpunkt schon für die Gesinnung des Österreichers sind, schreibt er im selben Brief. Martin und Elsa wollen „noch fünf Jungen mehr“ … Im Brief vom 10. Dezember 1932 schreibt Martin auch dies:
Ach, Max, wie immer verrate ich mich selbst. Obwohl du während unserer stürmischen Affäre geschwiegen hast, weißt Du, daß mir die Entscheidung nicht leichtgefallen ist. Du hast mir, Deinem Freund, nie einen Vorwurf gemacht, während Deine kleine Schwester litt. Und ich hatte immer das Gefühl, Du wußtest, daß auch ich litt, ganz furchtbar sogar.
Was konnte ich denn tun? Da waren Elsa und meine kleinen Söhne. Es gab keine andere Möglichkeit. Dennoch empfinde ich eine Zärtlichkeit für Grisellle, die auch dann noch andauern wird, wenn sie längst einen viel jüngeren Mann gefunden hat, der sie lieben und heiraten wird. Die alte Wunde ist verheilt, aber die Narbe juckt zuweilen, mein Freund.
Ich bitte Dich, ihr unsere Adresse zu geben. Wir sind so nah an Wien, daß sie das Gefühl haben kann, nicht weit von ihr sei ein Zuhause für sie. Elsa weiß nichts von der alten Leidenschaft zwischen uns, und du kannst Dir vorstellen, mit welcher Wärme sie Deine Schwester willkommen hieße — so, als hieße sie Dich willkommen. Ja, Du mußt ihr sagen, daß wir hier wohnen, und dränge sie, so bald wie möglich mit uns Kontakt aufzunehmen. Gratuliere ihr bitte recht herzlich von uns zu ihrem Erfolg.
Am 21. Januar 1933 schreibt Max:
Mein lieber Martin, ich war froh, daß ich Griselle Deine Anschrift geben konnte. […] Was für ein fröhliches Fest wird das, wenn sie Euch alle wiedersieht. […] Wer ist dieser Adolf Hitler, der in Deutschland augenscheinlich an die Macht strebt? Was ich über ihn höre, mag ich gar nicht.
Martin antwortet am 25. März 1933.
Lieber alter Max, du hast bestimmt von den neuen Ereignissen in Deutschland gehört und wirst wissen wollen, wie es sich für uns aus der Innensicht darstellt. Um die Wahrheit zu sagen, Max, ich glaube, daß Hitler in einiger Hinsicht gut für Deutschland ist, aber sicher bin ich mir nicht. Er führt nun als Kanzler die Regierungsgeschäfte, und ich denke, selbst Hindenburg könnte ihn jetzt nicht mehr stürzen, da er ja gewissermaßen gezwungen war, ihn an die Macht zu bringen. Der Mann ist wie ein elektrischer Schock, so stark, wie nur ein begnadeter Redner oder ein Fanatiker es sein kann. Aber ich frage mich, ob er richtig im Kopf ist. Seine Braunhemden sind nichts als Pöbel. Sie plündern und haben mit böser antijüdischer Hetze begonnen. Aber vielleicht sind dies nur Nebensächlichkeiten, der leichte Schaum an der Oberfläche, der entsteht, wenn eine große Bewegung zu siegen beginnt. Denn ich sage Dir, mein Freund, da ist eine Woge — eine mächtige Woge. […] Ein Führer ist erkoren! Gleichwohl stelle ich mir selbst vorsichtig die Frage, ein Füher wohin? […] Vor andren Leuten äußere ich selbstverständlich keine Zweifel. Ich bin jetzt im öffentlichen Dienst und arbeite in der neuen Regierung. Also zeige ich mich lauthals erfreut. Von den Beamten treten alle, die ihre heile Haut zu schätzen wissen, schleunigst den Nationalsozialisten, der NSDAP, bei. Das ist der Name von Herrn Hitlers Partei. Aber das geschieht nicht nur aus Berechnung, da ist mehr, ein Gefühl, daß wir Deutschen unsere Bestimmung gefunden haben und die Zukunft in einer überwältigenden Welle auf uns zurollt. Wir müssen mit ihr gehen. Auch jetzt geschieht noch Unrecht. Die SA-Truppen feiern im Augenblick Siege; blutig geschlagene Gesichter und gebrochene Menschen legen davon ein trauriges Zeugnis ab. Aber diese Dinge gehen vorüber. Wenn das Ziel am Ende richtig ist, verschwinden sie und sind vergessen. Die Geschichte wird auf ein weißes, neues Blatt geschrieben werden.
Die einzige Frage, die ich mir stelle — und nur Dir mitteile, niemand anderem hier kann ich mich anvertrauen –, lautet: Ist das Ziel richtig? Ist die Leitidee, der wir folgen, besser als eine andere? […] Dem Herrn sei Dank, daß es ein wahrer Führer ist und nicht ein Engel des Todes, dem sie so freudig folgen. Max, nur Dir allein kann ich eingestehen, daß ich zweifle. Ich hege Zweifel, aber ich hoffe.
Am 18. März 1933 antwortet Max:
Lieber Martin, ich bin in Sorge über die Flut der Presseberichte über Dein Vaterland, die zu uns herüberschwappt. Da wir lauter widersprüchliche Geschichten erfahren, wende ich mich natürlich mit der Bitte um Aufklärung an Dich. Ich bin mir sicher, die Dinge können nicht so schlimm sein, wie sie dargestellt werden. Ein schrecklicher Pogrom, so lautet die übereinstimmende Meinung der amerikanischen Zeitungen.
Ich weiß, Daß Du ein liberaler Geist und Dein mitfühlendes Herz keine Bösartigkeiten tolerieren würde und daß ich von Dir die Wahrheit erfahren werde. […]
Am 9. Juli 1933 schreibt Herr Schulse:
Lieber Max, wie Du sehen kannst, schreibe ich auf dem Geschäftspapier meiner Bank. Dies ist notwendig, denn ich habe eine Bitte an Dich und möchte dabei die neue Zensur umgehen, die äußerst streng ist. Wir müssen für den Augenblick aufhören, uns zu schreiben. Selbst wenn ich kein offizielles Amt bekleidete, wäre es für mich unmöglich, mit einem Juden zu korrespondieren. Sollte ein Kontakt unumgänglich sein, dann lege den Brief den Bankauszügen bei. Schreibe mir nicht mehr an meine Privatadresse. […]
Max am 1. August 1933:
Ich finde nach dem letzten Brief, den Du mir geschickt hast, keine Ruhe mehr. Diese Worte klangen so wenig nach Dir, daß ich den Inhalt nur Deiner Angst vor der Zensurstelle zuschreiben kann. Der Mann, den ich wie einen Bruder geliebt habe, dessen Herzen immer vor Sympathie und Freundschaft übersprudelte, kann doch unmöglich, und sei es in untätiger Mitläuferschaft, an der Abschlachtung eines unschuldigen Volkes teilhaben. Ich vertraue Dir und bete, daß ich Deine Lage richtig verstehe. Ich erwarte keine ausführliche Erklärung von Dir, die Dich in Schwierigkeiten bringen könnte — nur ein einfaches „Ja“. Das wird mir sagen, daß Du den notwendigen opportunistischen Part spielst, aber daß Dein Herz sich nicht gewandelt hat, daß ich mich nicht in meinem Glauben getäuscht habe. Du seist immer ein Mann von feinem, liberalem Geist gewesen, für den das Falsche falsch bleibt, in wessen Namen auch immer es verübt wird.
Diese Zensur, diese Verfolgung aller Menschen mit liberalen Ansichten, die Bücherverbrennungen und die Korruptheit der Universitäten hätten Deinen Widerspruch hervorgerufen, auch wenn keinem einzigen Angehörigen meiner Rasse ein Haar gekrümmt worden wäre. Du bist ein Liberaler, Martin. Du hast immer mit Weitblick gedacht. Ich weiß, daß Du Dich in Deiner klaren Geisteshaltung nicht von einer populistischen Strömung mitreißen läßt. Diese Volksbewegung hat, so stark sie auch sein mag, etwas abgrundtief Schlechtes an sich.
Ich verstehe wohl, warum die Deutschen Hitler zujubeln. Sie reagieren auf die Ungerechtigkeiten, die sie seit dem Desaster des Krieges erlitten haben. Aber du, Martin, hast seit dem Krieg im Grunde wie ein Amerikaner gelebt. Ich weiß, es war nicht mein Freund, der mir diesen Brief geschrieben hat. Es wird sich herausstellen, daß es nur die Stimme der Vorsicht und des Opportunismus war.
Ungeduldig erwarte ich dieses eine Wort, das meiner Seele ihren Frieden zurückgeben wird. Schreibe schnell Dein „Ja“.
„Nein“.
Ist die Antwort von Herrn Schulse am 18. August 1933. Und er schreibt weiter:
Aber Du täuschst Dich. So, ich soll also ein amerikanischer Liberaler sein? Nein! Ich bin ein deutscher Patriot.
[…]
Ich muß darauf bestehen, daß Du mir nicht mehr schreibst. Wir sind keine Freunde mehr, das müssen wir beide anerkennen.
Ein „Ja“ von Martin Schulse zu Max Eisenstein wäre ein Ja zu seinem Leben gewesen, ein „Nein“ von Martin Schulse zur Partei des Österreichers, ein Nein zum Österreicher wäre ein Nein zu seiner Ermordung —
Max Eisenstein am 5. September 1933:
Lieber Martin, beigelegt findest Du Deinen Kontoauszug und die Monatsabrechnungen.
[…]
Ich nehme an, es wird Dir mißfallen, daß ich mich gezwungen gesehen habe, Deinen Namen aus dem Galerienamen zu entfernen. Aber Du weißt, wer unsere wichtigsten Kunden sind. Sie würden jetzt niemals etwas anrühren, das aus einer Firma mit deutschen Namen kommt. Über Deine neue Haltung kann ich nicht diskutieren. Aber Du mußt mich verstehen. Ich hatte nicht erwartet, daß Du für mein Volk zur Waffe greifen würdest, weil es mein Volk ist, sondern weil Du ein Mann warst, der die Gerechtigkeit liebte. Ich vertraue Dir meine unbesonnene Griselle an. Das Kind sieht nicht, in welche Gefahr es sich begibt. Ich werde Dir nicht mehr schreiben. Auf Wiedersehen, mein Freund.
Am 5. November 1933:
Martin, ich schreibe Dir noch einmal, weil mir kein anderer Ausweg bleibt. Eine dunkle Vorahnung hat von mir Besitz ergriffen. Sobald ich wußte, daß Griselle in Berlin angekommen war, habe ich ihr geschrieben. Sie antwortete auch kurz, die Proben verliefen hervorragend und das Stück habe bald Premiere. Mein zweiter Brief war aufmunternder Natur, ohne ängstliche Warnungen, und er wurde mir ungeöffnet, mit einem Stempel „Adressat unbekannt“ zurückgesandt.
Welche Dunkelheit diese Worte bergen! […] „Adressat unbekannt“. Martin, muß ich Dich ausdrücklich bitten, sie zu finden, ihr beizustehen? Du hast ihre Anmut gekannt, ihre Schönheit und Zartheit. Sie hat Dir ihre Liebe geschenkt, keinem anderen Mann außer Dir. Versuche nicht, mir zu schreiben. Ich weiß, ich brauche Dich um Deine Hilfe noch nicht einmal zu bitten. Es genügt, Dir zu sagen, daß etwas Schlimmes passiert ist, daß sie in Gefahr schwebt. Ich gebe sie in Deine Hände, denn ich kann ihr nicht zur Seite stehen.
Einen mit 18. März 1934 gestempelten Brief erhält Max Eisenstein noch, aus Deutschland, ungeöffnet — „Adressat unbekannt“.
Neunzig Jahre später sind die Adressatinnen bekannt, zu denen „Nein“ zu sagen ist. Auch von jenen zu ihnen „Nein“ zu sagen ist, die noch meinen, diese Adressatinnen, die nichts senden, bloß empfangen, wären ihre Rettung, ihr Heil, aber am Ende werden sie selbst Opfer ihrer Empfängerinnen sein, von ihnen zum eigenen Wohl in ihren Ruin getrieben sein, in manchen Ländern auch um ihr Leben gebracht sein, ermordet wie Martin Schulse,
den die eigene „Volksbewegung“ ermordete.
Martin Schulse, der bis zu seiner Ermordung im Schloss Rantzenburg, München, Deutschland … wehrherrschaftliche Gebäude stehen auch neunzig Jahre später Menschen, die sich patriotisch nennen, wie sie meinen, rechtens als ihre Heimstätten zu —
Die bekannten Empfängerinnen sind die Parteien, die mit Patriotismus locken, verführen,
in den Untergang führen … Die patriotischen Parteien in Österreich, in Deutschland, in Ungarn, in Frankreich, in den Niederlanden …
die patriotischen Parteien, deren Namen nicht genannt werden müssen, denn gemein
ist ihnen gesinnungsgemäß:
Mit diesem einen Namen sind alle diese Parteien authentisch, wie es modern heißt, mit ihrem einzigen Programm, das allen gemein, zu benennen.
Es muß an diese Parteien nichts adressiert werden,
keine Karte mit einem einfachen wie kurzen „Nein“ geschickt werden, die durchaus zusätzlich an diese Parteien geschickt werden kann,

aber entscheidend und wesentlich ist das „Nein“ in der Wahlkabine,
ein „Nein“, das nicht einmal geschrieben werden muß, ein „Nein“, das einfach dadurch zum Ausdruck schon zu bringen ist, indem diese Parteien nicht gewählt werden,
und das Nichtwählen dieser Parteien ist, so weit müßte der wenn schon nicht Weitblick, doch zumindest der Selbsterhaltungsblick reichen, ein „Ja“ zum eigenen Wohlergehen.
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