Vor 85 Jahren, das wird 2021 sein, schreibt Stefan Zweig in seinem „Castellio“, was es alles nicht gegeben hätte, wenn die Calvins die letzten fünfhundert Jahre totalitär bestimmt hätten.
Und daran ist zu erinnern. Anregung für die notwendigen Aktivjahre der Toleranz, wie geschrieben im Kapitel:
Aktivjahre der Toleranz statt einem Gedenkjahr.
Stefan Zweig schreibt seinen „Castellio“ als ein deutliches Zeichen gegen die Calvins seiner Zeit, sein „Castellio“ ein einziger Warnruf an die Menschen seiner Gegenwart: Deutschland, Österreich nicht zu einem Genf verkommen zu lassen. Und was Stefan Zweig als Warnbuch für seine Zeit verfaßt, braucht nur wiederholt zu werden, in diesem Europa des Jahres 2018, in dieser Welt des 21. Jahrhunderts.
Europa nicht wieder zu einem Genf verkommen zu lassen.
Es ist menschgemäß bitter, diesen Warnruf von Stefan Zweig wiederholen zu müssen, Europa nicht wieder zu einem Genf verkommen zu lassen, im 21. Jahrhundert weiter daran erinnern zu müssen, daß die Calvins durch die Jahrhunderte nichts zum humanen Fortschritt beigetragen haben, und wie unverständlich, daß diesen Calvins nach wie vor Jubiläen ausgerichtet werden.
Wie bitter, immer wieder und nach wie vor werden Calvins geboren, irgendwo und überall auf dieser Welt, und das tatsächlich Bittere daran ist, es finden sich immer wieder und nach wie vor Menschen, irgendwo und überall auf dieser Welt, die bereit sind, diesen Calvins zu folgen, wie auch immer die Calvins ihrer Zeit heißen mögen. Und was die Calvins mit ihrem Terroranleitungsbuch Koran vor bald fünfhundert Jahren aus Genf machten, wollte auf Punkt und Beistrich genau etwa ein Abu Bakr al-Baghdadi in einem anderen Teil der Welt im einundzwanzigsten Jahrhundert machen. Aber wie es den Calvins in Europa nicht gelang, gelingt es auch den Baghdadis mit ihrem Terroranleitungsbuch Bibel nicht, die Welt auf immer, für Jahrhunderte zu einem Genf verkommen zu lassen.
Es ist tröstlich, und es stimmt zuversichtlich, daß den Baghdadis stets nur für kurze Zeit es gelingt, ihre mörderischen Regime zu halten. Stets nur kurz ihren Auslöschungsdurst zu stillen, immer nur kurz ihren Hunger nach Trümmern zu sättigen.
Das einundzwanzigste Jahrhundert aber sollte endlich zu einem ersten Jahrhundert werden, es muß endlich zu einem werden, in dem nicht wieder und wieder die von diesen nur von Zerstörung und Blutdurst Besessenen hinterlassenen Trümmer weggeräumt werden müssen, nach ihnen nicht wieder und wieder aufgeräumt werden muß, nach ihnen nicht wieder und wieder von Neuem begonnen werden muß, mit dem Aufbau in jedweder Hinsicht: wirtschaftlich, moralisch, ethisch.
Deshalb ist es notwendig zu erinnern, nicht an die barbarischen Taten dieser Abu Calvins, sondern daran, was Stefan Zweig vor 85 Jahren in seinem „Castellio“ zur Aufzählung bringt, das den Menschen wahrer Fortschritt war und je nur sein kann, verpflichtet keinem Gesinnungsterroranleitungsbuch, sondern getragen von der humanen und einzigen tragfähigen Idee der Toleranz, vereidigt auf das einzige Leitwort, dem der Mensch zu folgen sich erlauben darf: dem Leitwort Toleranz.
Dieses Warnbuch, von Stefan Zweig vor 85 Jahren, das wird 2020 sein, begonnen, sollte, muß breit gelesen werden und breit zitiert und breit besprochen werden, und nicht weiter breit darf Stefan Zweig mißbraucht werden mit seinem Titel „Die Welt von gestern“,
Auf einer Wiese am Teich bei Eisenstadt
Als wär’s ein Lied von Wolf – Stille Sicherheit
Migration ist des Menschen Heimat
Wie verführerisch schön das Plattschäbige zu klingeln vermag
mit dem bloß raunende Beschwörung der Vergangenheit passiert, in der kein Mensch, ist er einigermaßen bei Verstand, je zu leben gewillt sein kann.
Nicht aus den Jahrhunderten die Männer und Frauen des Zerstörens, des Mordens, des Terrors weiter zu preisen, sondern was unter dem Leitwort Toleranz geschaffen wurde, wie es Stefan Zweig so eindrücklich in seinem vor bald 85 Jahren beendeten und veröffentlichten Buch beschreibt:
Atemberaubend, es sich innerlich auszudenken, das siebzehnte, das achtzehnte, das neunzehnte Jahrhundert Europas ohne Musik, ohne Maler, ohne Theater, ohne Tanz, ohne seine üppige Architektur, ohne seine Feste, seine verfeinerte Erotik, sein Raffinement der Geselligkeit!
Nur kahle Kirchen und strenge Predigten als Erbauung – nur Zucht und Demut und Gottesfürchtigkeit! Die Kunst, dieses Gotteslicht in unserem dumpfen und dunklen Werktag, hätten die Prädikanten als „sündige“ Schwelgerei, als Lustmacherei, als „paillardise“ uns verboten, ein Rembrandt wäre Müllerknecht geblieben, Molière ein Tapezierer oder Bedienter.
Die üppigen Bilder Rubens‘ hätten sie entsetzt verbrannt und vielleicht ihn selber dazu, einen Mozart verhindert an seiner heiligen Heiterkeit, einen Beethoven erniedrigt zur Vertonung von Psalmengesang!
Shelley, Goethe und Keats – könnte man sie sich vorstellen unter dem „placet“ und „imprimatur“ frommer Konsistorien?
Einen Kant, einen Nietzsche ihre Denkwelt aufbaund im Schatten der „Disziplin“?
Nie hätten Verschwendung und Verwegenheit bildnerischen Geistes sich zu so denkwürdiger Pracht versteinern dürfen wie in Versailles und im römischen Barock, nie in Mode und Tanz sich die zarten Farbenspiele des Rokoko entfalten können; verkümmert wäre in theologischer Rabulistik der europäische Geist, statt sich in schöpferischem Wandel zu entfalten. Denn unfruchtbar und unschöpferisch bleibt die Welt, wenn nicht getränkt und gefördert durch Freiheit und Freude, und immer erfrostet das Leben in jedem starren System.
Glücklicherweise hat Europa sich nicht disziplinieren, nicht puritanisieren, nicht vergenfern lassen. Wie gegen alle Versuche, die Welt in ein einziges System zu kasernieren, hat auch diesmal der Lebenswille, der ewige Erneuerung begehrt, seine unwiderstehliche Gegenkraft eingesetzt. Nur in einem kleinen Teil Europas ist die calvinistische Offensive siegreich vorgestoßen, aber selbst, wo sie zur Herrschaft gelangte, hat sie bald freiwillig ihr buchstabenstrenges Bibeldiktat abgetan.
Keinem Staate hat die Dauer Calvins Theokratie ihre Allmacht aufzwingen können, und vor dem Widerstand der Realität mildert und humanisiert sich bald nach seinem Tod die Lebensfeindlichkeit, die Kunstfeindlichkeit der einstmals unerbittlichen „Disziplin“.
Denn immer ist auf die Dauer das sinnliche Leben stärker als jede Starre, es lockert jede Strenge, es mildert jede Härte. Wie ein Muskel nicht ununterbrochen in äußerster Spannung gekrampft bleiben, wie eine Leidenschaft nicht ständig in Weißglut verharren kann, so vermögen auch die geistigen Diktaturen niemals dauernd ihren rücksichtslosen Radikalismus zu bewahren: meist ist es nur eine einzige Generation, die ihren Überdruck schmerzhaft zu erleiden hat.
Damit ist das Kapitel „Die Pole berühren einander“ aus dem „Castillio“ noch nicht gänzlich zitiert.
Morgen aber ist auch noch ein Tag.
Gewiß aber hätte er, Stefan Zweig, in seine Aufzählung auch das zwanzigste Jahrhundert miteingeschlossen, und so als Abschluß für diesen Tag mit größtem Respekt und größter Hochachtung seinen Satz aufnehmend und erweiternd …
Atemberaubend, es sich innerlich auszudenken, das siebzehnte, das achtzehnte, das neunzehnte Jahrhundert, das zwanzigste Jahrhundert, und die kommende Zeit der Welt ohne Musik, ohne Malerinnen, ohne Theater, ohne Tanz, ohne seine üppige Architektur, ohne seine Feste, seine verfeinerte Erotik, sein Raffinement der Geselligkeit!