„Die nationalsozialistische ‚Zigeunerpolitik‘1 hatte mit dem Auschwitz-Erlaß Himmlers vom 16. Dezember 1942 die endgültige und totale Vernichtung der Minderheit eingeleitet, und sie wurde mit den nachfolgenden Deportationen praktisch durchgeführt. Sie endete danach keineswegs, sondern wurde von den Instanzen des NS-Regimes bis zur Befreiung durch die Alliierten Streitkräfte weiterverfolgt. So ordnete das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS im Herbst 1944 noch die Entlassung von SS-Angehörigen an, die mit einer Jüdin oder Zigeunerin verheiratet seien, während per Verfügung der Parteikanzlei vom 9. Dezember 1944 Juden und ‚Zigeuner‘ und ‚Mischlinge‘ zum Volkssturm oder Einheiten der Wehrmacht herangezogen wurden, um so – vorläufig von der Endlösung verschont – für den ‚Endsieg der Herrenmenschen‘ kämpfen zu müssen.2 Nach der Befreiung aus den Lagern waren mehrere hunderttausend Sinti und Roma aus ganz Europa Opfer der NS-Vernichtungspolitik geworden.“
Einmal, um ein weiteres Mal, auf die Ungleichbehandlung, auf die Ungleichbeachtung in der Gegenwart hinzuweisen.
Einmal auch, um … es wird gar nicht gewußt, wie das formuliert werden soll, um den Aberwitz von Menschen, die von Antisemitismus, von Antiziganismus, von Rassismus zerfressen sind …

Es zeigt sich an diesem Beispiel aus der Vergangenheit, daß auch für Menschen, die von Antiziganismus, von Rassismus, von Antisemitismus vollkommen zerfressen sind, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus jede Bedeutung, jede Wichtigkeit verlieren kann, wenn sie ihr Hauptaugenmerk auf etwas anderes legen, in diesem Fall auf den „Endsieg“.
Dann sind Menschen, die von Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus vollkommen zerfressen sind, heute auf morgen bereit, mit den Menschen, die für sie keine Menschen sind, sondern zu Ermordende, Auszurottende, Schulter an Schulter zu kämpfen, vertrauen sie diesen Menschen, die für sie Auszurottende sind, an, für sie den „Endsieg“ zu erkämpfen.
Es wird nicht gewußt, ob es zur „Verfügung der Parteizentrale vom 9. Dezember 1944“ auch entsprechende Aufrufe gegeben hat. Bei der gesinnungsgemäßen Liebe zu Aufrufen, zu Parolen könnte es durchaus welche gegeben haben. Wie könnte so ein gesinnungsgemäßer Aufruf gelautet haben?
Vielleicht: „Juden, Zigeuner, Mischlinge, erkämpfet für das Deutsche Reich den Endsieg! Euer Lohn soll Eure Endlösung sein.“
Was in „Sinti und Roma – 600 Jahre in Deutschland“ beschrieben ist, erzählt von Vergangenheit und von der Fortsetzung der Vergangenheit nach 1945, auch von Menschen mit ihren Karrieren vor 1945 und nach 1945 in Deutschland. Zum angesprochenen „Rassenhygienische Institut“ fällt sofort das „Rassenbiologische Institut“ in Innsbruck ein, mit seinen Männern und ihren Karrieren vor 1945 und nach 1945 mit Gesinnungsweitertragung; einer aus diesem Institut soll, ein weiteres Mal, stellvertretend genannt werden, ein Mann in hohen politischen Funktionen, ein Mann, der sich berufen fühlte, Bundespräsident in Österreich …
Dieser Mann vom „Rassenbiologischen Institut“ und SA-Sturmführer saß etliche Jahre im österreichischen Parlament und beschloß Bundesgesetze mit. In Österreich, eine Tradition, daß antiziganistische und rassistische … kurz erst ist es her, daß ein antiziganistischer und rassistischer Mann, von dem aber nicht bekannt ist, daß er auch antisemitisch ist, an einem österreichischen Bundesgesetz mitschrieb, bezeichnenderweise am Waffengesetz …
„Um sich ein genaues Bild von den Auswirkungen des Völkermords an den Sinti und Roma – Genozid, Zwangsarbeit, Verfolgungen, medizinische Experimente, eugenische Maßnahmen und der Zerstörung großer Teile ihrer Kultur – nach dem Kriegsende machen zu können, ist es von besonderer Bedeutung, den Charakter und den Modus der nationalsozialistischen ‚Zigeunerpolitik‘ in seiner Komplexität ineinandergreifender und/oder konkurrierender Instanzen und Institutionen zu verstehen, die sich nach Kräften mühten, Städte, Kommunen, Behörden, Schulen etc. ‚juden- und zigeunerfrei‘ zu machen.3 Gerade die sich ergänzenden bzw. sich gegenseitig überbietenden Radikalisierungs- und Entkoppelungsprozesse der Administrationen und Institutionen scheinen die furchtbare Gründlichkeit der Vernichtungsmaßnahmen bewirkt zu haben: Vom rassistischen Diskurs der Wissenschaften, der Förderung ‚rassenhygienischer Forschungen‘ und sogenannter ‚Rassengutachten‘ durch die deutsche Forschungsgemeinschaft, den eugenischen Maßnahmen der Gesundheitsämter, der polizeilichen Totalerfassung durch die ‚Zigeunerleitstellen‘, der Amtshilfe der christlichen Kirchen bis hin zu jenen Organisationen und Tätern, die unmittelbar an der Deportation und Ermordung beteiligt waren.
Die Analyse dieses komplexen Prozesses ist nicht nur für das Begreifen der NS-Vernichtungspolitik wesentlich, sondern sie ermöglicht ebenso ein Verständnis für die behördlichen, wissenschaftlichen, politischen, juristischen Diskurse und Praktiken, mit denen die überlebenden Sinti und Roma, die aus den Konzentrationslagern nach Deutschland zurückkehrten, konfrontiert wurden.4 Obwohl die Geschichte behördlichen und politischen Handelns gegenüber den Sinti und Roma im Nachkrieg noch nicht hinreichend erforscht worden ist, kann man ohne Übertreibung feststellen:
– die Planer, Organisatoren und Vollstrecker des Völkermords an den Sinti und Roma blieben ungestraft und konnten nach dem Krieg ihre Karrieren unbehelligt fortsetzen; beispielsweise Paul Werner, SS-Standartenführer und für die Planung der Maideportationen zuständig, machte bis in die 60er Jahre hinein Karriere als Ministerialbeamter in Baden-Württemberg; Robert Ritter, Leiter des Rassenhygienischen Instituts, der den Völkermord mit vorbereitete, leitete nach 1945 bis zu seinem Tod 1951 in Frankfurt die Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke und Joseph Eichberger, der im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) die ‚Zigeunertransporte‘ organisierte, wurde Leiter in der ‚Landfahrerzentrale‘ im Landeskriminalamt in München.
– die personelle Kontinuität und die strukturellen Grundlagen der NS-Zigeunerpolitik wurden nicht hinreichend gebrochen und abgeschafft; vielmehr leugneten Juristen bis zum BGH den Völkermord an den Sinti und Roma und übernahmen in ihren Urteilen explizit NS-Sprachregelungen; relativierten Mediziner und Amtsärzte die physischen und psychischen Verfolgungs- und Gesundheitsschäden der Überlebenden; nahmen Polizeibeamte Sondererfassungen der Sinti und Roma vor und setzten die ethnische Diskriminierung fort und schließlich versäumten es die Gesellschaftswissenschaften, den Völkermord an den Sinti und Roma aufzuarbeiten, über den Antiziganismus aufzuklären und die gesellschaftliche Ausgrenzung zu analysieren.
– der gesellschaftliche Antiziganismus und die ‚Zigeunerbilder‘ lebten in den Köpfen und den Amtsstuben weiter und dienten zur Rechtfertigung gegenwärtiger und künftiger Ungleichbehandlung und Ausgrenzung der überlebenden Sinti und Roma, die nun mit zweifelhaften rechtsstaatlichen Mitteln praktiziert wurden.“
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