„[…] die Tür aufmachen möchte für eine generelle 35-Stunden-Woche […] Wir werden in Österreich mit einer generellen Arbeitszeitverkürzung das Licht abdrehen. Dann können wir uns alle weiße Leintücher umhängen und geordnet zum wirtschaftspolitischen Friedhof marschieren. […] Das ist eine Inselansicht aus den 70er Jahren […]“
Das sagt am gestrigen Sonntag Harald Mahrer in der Pressestunde.
Harald Mahrer unterstellt also der Gewerkschaft in den „70er Jahren“ stehengeblieben zu sein, mit ihren Ansichten. Harald Mahrer und seine nun türkis getupfte schwarze Partei waren schon einmal weiter, mit ihren Ansichten, das war in den 30er Jahren. Und nun ist Harald Mahrer und seine türkis getupfte Partei nicht einmal mehr in den 30er Jahren, sondern stehen ansichtsmäßig Jahre oder gar Jahrzehnte vor den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Zu Erinnerung, wie sehr setzte sich Harald Mahrer für den 12-Stunden-Tag und die 60-Stunden-Woche im Jahr 18 dieses Jahrhunderts ein, und vollbrachte dabei gleich mit seiner Wirtschaftskammer seine bisher größte Leistung: das Werbevideo zum 12-Stunden-Tag der 60-Stunden-Woche …
Eine Gewerkschaft, die lediglich eine Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden pro Woche fordert, und das nicht einmal für alle Beschäftigten, sondern für lediglich etwa 125.000 Beschäftigte in Österreich, das ist eine Gewerkschaft, die Harald Mahrer aus Dankbarkeit in seine Opernballloge einladen müßte, also in die Loge, die nicht er bezahlt, sondern die Wirtschaftskammer, die das Geld dafür nimmt von …
Zygmunt Baumann kommt in „Retrotopia“ auf „Utopien für Realisten: Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen“ zu sprechen.
Es lohnt die gesamte Passage zu zitieren, beginnend mit Morus, bis Zygmunt Baumann zum Untertitel „Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen“ kommt und darüber hinaus:
„Fünfhundert Jahre nachdem Thomas Morus dem jahrtausendealten Menschheitstraum von der Rückkehr ins Paradies beziehungsweise der Errichtung eines Himmels auf Erden den Namen „Utopia“ gegeben hat, nähert sich eine Hegel’sche Triade doppelter Negation der Vollendung. Nachdem die seit Morus stets an einen festen topos – einen konkreten Ort, eine Polis oder Stadt, einen souveränen Staat unter einem weisen und wohlwollenden Herrscher – geknüpfte Aussicht auf ein diesseitiges Glück von jedem bestimmbaren topos abgelöst und damit negiert worden ist, damit sie individualisiert, privatisiert und personalisiert (und nach dem Prinzip der ‚Subsidiarität‘ auf den Einzelnen in seinem Schneckenhaus übertragen) werden konnte, geht sie jetzt durch eine weitere Negation eine Synthese mit dem ein, was sie ihrerseits lange Zeit tapfer, aber erfolglos zu negieren versuchte. Dieser doppelten Negation klassischer, an Morus orientierter Utopien – ihre Zurückweisung, gefolgt von ihrer Wiederbelebung – entspringen die zahlreichen gegenwärtigen ‚Retrotopien‘: Visionen, die sich, anders als ihre Vorläufer nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/geraubten/ verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit:
Oscar Wilde erklärte, sobald wir das Land des Überflusses erreicht hätten, müssten wir unseren Blick auf den Horizont richten und erneut die Segel setzen: ‚Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.‘ Aber der Horizont bleibt leer. Das Land des Überflusses ist in Nebel gehüllt. Just in dem Moment, in dem wir uns der historischen Aufgabe hätten stellen sollen, diese reiche, sichere und gesunde Welt mit Sinn zu erfüllen, beerdigten wir stattdessen die Utopie. Und wir haben keinen neuen Traum, durch den wir sie ersetzen könnten, weil wir uns keine bessere Welt als die vorstellen können, in der wir heute leben. Tatsächlich glauben die meisten Menschen in den reichen Ländern, daß es ihren Kindern schlechter gehen wird als ihnen.
Das konstatiert der Historiker Rutger Bregman in seinem Buch Utopien für Realisten (dessen Untertitel Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen lautet).“
Die Privatisierung beziehungsweise Individualisierung der Idee des ‚Fortschritts‘ und des Strebens nach einem besseren Leben wurden von den herrschenden Mächten als Befreiung verkauft und von den meisten ihrer Untergebenen als solche begrüßt: die Entlassung aus den strengen Anforderungen der Unterordnung und Disziplinierung – auf Kosten der sozialstaatlichen Absicherung. Für eine große und nach wie vor wachsende Anzahl der ‚Untertanen‘ hat sich diese ‚Befreiung‘ langsam, aber stetig als überaus zweifelhafter Segen erwiesen, der immer mehr Beimischungen eines Fluchs enthält. An die Stelle der Gängelung durch staatliche Einschränkungen sind die ebenso erniedrigenden, furchteinflößenden und belastenden Risiken getreten, die die von oben dekretierte Eigenverantwortlichkeit unvermeidlich mit sich bringt.“
Eine nicht auf Österreich hin geschriebene Diagnose, aber auch eine auf Österreich zutreffende, kurz zusammengefaßt: nur Nebel, ohne Horizont, nur Nebel mit nicht einmal einem leeren Horizont …
Die Pressestunde also wieder einmal, kurz gesagt, eine erhellende Stunde, diesmal mit Harald Mahrer, wie ein andermal mit seinem Sitznachbarn in der Nationalbank …

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