Martin Luther in der Besprechung am Wannsee

Es wird jetzt viel geredet über einen Film, der nicht Besprechung mit anschließendem Frühstück zum 20. Jänner um 12.00 heißt, sondern: „Wannseekonferenz“, von dem viele beeindruckt sind, erschüttert, den Film empfehlen, sich diesen unbedingt anzusehen.

Ein Moderator gesteht gar seine Unbegreiflichkeit ein, daß keiner – die Protokollantin wird er wohl mit meinen – in diesen neunzig Minuten einmal sagt: seid ihr alle verrückt geworden. Warum das nicht gesagt wird? Zu den bereits gemachten Ausführungen dazu kann noch eine Erklärung hinzugefügt werden, die aber nicht aus der Historie resultiert, sondern die der Film selbst anbietet. Der Darsteller des Heinrich Müller, der Darsteller des „Gestapo-Müller“ hat den gesamten Film über alle zum Frühstück mit vorheriger Besprechung Geladenen mit einem geheimstaatspolizeilich strengen Blick im Visier – der Besprechungsraum ein Panoptikum; wer wagte es je zu sagen, ihr …

Worüber aber nicht geredet wird, was nicht unbegreiflich erscheinen will, ist, daß an dieser Besprechung Martin Luther teilnimmt.

Ah, sagen Sie, bloß eine Namensgleichheit. Aber was für eine Namensgleichheit! Und vor allem, bei der Tagesordnung, zu der Martin Luther gewichtig was zu sagen hat.

Martin Luther gegen die jüdischen Menschen.

Martin Luther, der Einfluß nimmt.

Martin Luther, der Gefeierte.

Martin Luther wird es noch erleben, daß ihm auch noch ausgerichtet werden: 1000-Jahresfeier zur Wiederkehr seines Geburstages und auch tausendjähriges Jubiläum seiner Thesen …

Einem Vorwurf aber ist Martin Luther in dieser Besprechung in der Villa am Wannsee nicht ausgesetzt, einen Verdacht gegen ihn mußte Martin Luther nicht empört zurückweisen, daß er nämlich ein „Zigeuner“

Und auch in dieser Hinsicht also doch nichts Neues bei den Frühstücksherren. Einer muß sich halt immer gegen Gerüchte erwehren, ein „Zigeuner“ zu sein, ein „Jude“ zu sein. Ein „Jude“ zu sein, mit dem Gerücht muß der mit Martin Luther in der Besprechung sitzende Reinhard Heydrich sich immer wieder in seinem Leben herumschlagen, so wie Martin Luther zurückweisen muß, ein „Zigeuner“ zu sein.

Ein einziges Mal wird in diesem Film das Wort „Zigeuner“ gesagt, nicht als Verdacht gegen Anwesende, und diesmal nicht von Martin Luther, der „Juden wie Zigeuner“ behandelt sehen will. Martin Luther beruft dazu keine Besprechung mit anschließendem Frühstück ein, er bespricht sich mit seinem Führer, der ihm das verheißt, was Martin Luther und seine Frühstückskameraden dafür an „organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen“ schaffen werden, um „Juden wie Zigeuner zu behandeln“.

Es wird vor allem über die Sprache der Frühstücksherren im Film nun viel gesprochen, viel geschrieben, mit viel Erschütterung, mit viel Betroffenheit Sprachlosigkeit artikuliert, über diese Besprechungssprache, die die Wahrheit, wie nun gesagt wird, versteckt …

Sprachlosigkeit herrscht auch zur Sprache, die heutzutage die Wahrheit versteckt, ohne aber die Sprachlosigkeit zu artikulieren, ohne viel zu sprechen, ohne viel zu schreiben, ohne viel zu tun hingenommen ohne Erschütterung, ohne Betroffenheit. Denn. Es sind ja Probleme sachlich, organisatorisch, materiell zu lösen, in Sitzungen …