Die Verkehrung des „Gnadenlosen“ in Österreich

Es sind bald sieben Jahre her, daß Nikolaus Halmer – https://sciencev2.orf.at/stories/1759578/index.html – eine Würdigung zum Todestag von Vladmir Jankélévitch schrieb, und er wählte dafür den Titel: „Der gnadenlose Denker“.

Nikolaus Halmer nutzt das öffentlich-rechtliche Medium oder der österreichische Rundfunk benutzt Nikolaus Halmer, Vladimir Jankélévitch durch seine Würdigung zu schmähen, die der österreichischen Tradition der Verleugnung, je etwas mit dem „Horror des NS-Regimes“ zu tun gehabt zu haben, treu ergeben ist.

Der österreichische Rundfunk und Nikolaus Halmer schaffen es in recht bester österreichischer Manier über „Verzeihen?“ von Vladimir Jankélévitch zu schreiben, ohne je zu erwähnen, was in diesem seinem Essay zu Österreich gesagt wird.

Die Deutschen galten ihm zeitlebens als „Volk der Mörder und Henker“: Vladimir Jankélévitch, einer bedeutendsten französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, konnte und wollte den Horror des NS-Regimes niemals hinter sich lassen. Verzeihen und Versöhnung lehnte er ab. Eine Würdigung anlässlich seines 30. Todestages am 6. Juni.

Einfach wie kurz kann das von Nikolaus Halmer und vom wissenschaftlichen österreichischen Rundfunk Verbreitete zusammengefaßt werden:

Es war das Deutschland, und nicht das Österreich.

Der Essay „Verzeihen?“ ist dem österreichischen Rundfunk und Nikolaus Halmer ein „Pamphlet“, also eine Schmähschrift, deren Kennzeichen es ist, nur „polemisch“, unwissenschaftlich, unredlich, diffamierend zu sein. Durch ihre Schmähung des Essays als „Pamphlet“ gewähren Nikolaus Halmer und der österreichische Rundfunk großzügig den „Deutschen“ Schutz vor dem „gnadenlosen“ Vladimir Jankélévitch, kehren es der österreichische Rundfunk und Nikolaus Halmer zur Rettung, zur Rehabilitierung um, nicht das „NS-Regime“ des Österreichers war „gnadenlos“, sondern „gnadenlos“ ist Vladmir Jankélévitch.

In seinem Pamphlet „Verzeihen?“ attackierte Jankélévitch mit leidenschaftlicher Vehemenz Philosophen wie Martin Heidegger, die sich weigerten, über ihr Engagement für die Nationalsozialisten zu sprechen. Hellsichtig war seine Kritik an Heidegger, den er den „Sturmabteilungen der deutschen Philosophie“ zurechnete – im Gegensatz zu den Repräsentanten der postmodernen Philosophen wie Jacques Derrida oder Jean-Francois Lyotard, die in Heidegger den „heimlichen König im Reich der Philosophie“ sahen. Polemisch äußerte sich der streitbare Philosoph aber auch über seine existenzialistischen Kollegen Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty, weil sie sich während des Zweiten Weltkrieges nicht der Résistance angeschlossen hatten und sich danach bequem im „Gehäuse des Existenzialismus“ eingerichtet hatten.

So wie es Nikolaus Halmer schreibt, so wie es der österreichische Rundfunk verbreitet, wird der Anschein erweckt, Jankélévitch hätte in „Verzeihen?“ gegen Jean-Paul Sartre und Maurice Merlau-Ponty „polemisch“ … Nur, die zwei Männer werden im Essay nicht genannt. Aus dem Vorwort von Jürg Altwegg ist jedoch ist zu erfahren:

Der Skandal platzte am Tage, an dem Jankélévitch zu Grabe getragen wurde. Die Zeitung „Libération“ druckte ein großes, mehrere Seiten umfassends Interview mit Jankélévitch, das im Hinblick auf eine Neuausgabe seines Essays „Pardonner?“ geführt worden war. In diesem Gespräch rechnete Jankélévitch mit den Philosophen ab, die im Nachkrieg Erfolg, im Krieg aber versagt und keinen Widerstand geleistet hatte. Er kritisierte Jean-Paul Sartre, der seine abwartende, leicht opportunistische und ziemlich unpolitische Haltung – seine Stücke wurden im besetzten Paris gespielt, seine Bücher mit dem Segen der Zensur veröffentlicht – nach der Befreiung mit dem Imperativ des Engagements und seinen politischen Stellungnahmen auf geradezu krankhafte Weise überkompensiert habe. Noch sprach niemand vom Judenstatut Vichys, mit dem Pétain sehr viel weiter gegangen war, als es die Deutschen je gefordert hatten […] Sehr viel verbitterter äußerte sich Vladimir Jankélévitch über Maurice Merlau-Ponty. Während Jankélévitchs Abwesenheit hatte sich Merlau-Ponty in seiner Pariser Wohnung eingenistet. Als man ihn aufforderte, etwas für die Résistance zu tun, lehnte er mit der Begründung ab, er schreibe gerade an seiner Habilitationsschrift.

„Hellsichtig“ gewesen zu sein, wenigstens in bezug auf Heidegger, gestehen Halmer und Rundfunk ihm dann doch zu. Ein Abschnitt im Essay, den im Ganzen zu zitieren es lohnt:

Warum sollten wir jenen verzeihen, die so wenig und so selten ihre Untaten bedauern? Heidegger ist verantwortlich, stellt Robert Minder nachdrücklich fest, nicht nur für all das, was er unter dem Nazismus gesagt hat, sondern auch für das, was er 1945 nicht gesagt hat. Ganz im Gegenteil scheint der Deutsche heute befallen zu sein von einem heftigen Juckreiz zu diskutieren, zu bestreiten und sogar anzuklagen; er tut von oben herab, verteilt Lob und Tadel: Auch er, er ist nicht einverstanden! Nicht einverstanden womit? Mit der Zahl der Opfer? Mit der Art des Gases, das verwendet wurde, um die Frauen und Kinder zu ersticken? Man glaubt zu träumen. Bald werden wir uns unsererseits, was die Deutschen anbelangt, schuldig fühlen und glücklich noch dazu, wenn sie uns zugestehen, daß beide Seiten Schuld tragen. Woher also nehmen sie diese Sicherheit? Woher kommt ihr verblüffend gutes Gewissen? Wir müßten zweifellos sagen: Diese vollständige Bewußtseinstrübung! Deutschland, soviel ist sicher, ist der Beleidigte, und es ist seine beachtenswerte Verlorenheit, von der die guten Geister beunruhigt sind. Müßten sich die Deportieren nicht ihrerseits entschuldigen, schon viel zu lange die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen zu haben? So wie die Dinge sich entwickeln, wird man schließlich entdecken, daß die Henker die wahren Opfer ihrer Opfer sind. Es sind nicht die Millionen Vernichteten, die unsere Sudetendeutschen des Pariser Journalismus interessieren, es ist das Los der unglücklichen Deutschen, die von den Slawen aus Preußen und Böhmen vertrieben wurden. Von nun an geht es nicht mehr um das ungeheure Massaker an Unschuldigen, um die Opfer der deutschen Raserei … Es geht darum zu wissen, ob M.[onsieur] Heidegger verleumdet worden ist; und wir sind es, die ihm Rechenschaft werden ablegen müssen! Millionen Unglücklicher sind an Hunger, Kälte und Elend in den Lagern gestorben; doch der große Denker wird im Bett des großen Denkers sterben. Im übrigen werden wir nicht das Gespräch mit den Metaphysikern des Nationalsozialismus anknüpfen oder mit ihren Freunden; noch mit den Freunden ihrer Freunde; oder mit den Sturmabteilungen* der deutschen Philosophie; denn wir erkennen ihnen nur das eine Recht zu: Beten, wenn sie Christen sind; uns um Verzeihung bitten, wenn sie es nicht sind. Und im jedem Fall: schweigen.

Es werden von Jankélévitch auch die „Sudetendeutschen“ angesprochen, und was für eine Rolle einer von diesen lange nach seinem Tod in Österreich spielte und weiter versucht zu spielen, von manchen weiter hofiert, das soll nur nebenher erinnert werden, macht dies doch verständlich, wie notwendig dieser Essay gegen die Verjährung, gegen das Vergessen in Frankreich war und in diesem Österreich notwendig ist.

Im Grunde kann nur eines empfohlen werden, den Essay in seiner Gesamtheit selbst zu lesen. Wie durchsichtig werden dann wie von selber die von Rundfunk und Halmer Beweggründe der Würdigung, vor allem durch die Unterschlagung des Anlasses für diesen Essay: Es geht um die Verjährung des Unverjährbaren. Zu einem Zeitpunkt, als es gerade um die zweieinhalb Jahrzehnte her war, daß dem Österreicher und seinen Helferinnenhelfern ihre Menschenvernichtungsfabriken geschlossen wurden.

Es ist ein Essay gegen „Schluß damit!“

Darüber hinaus hat es etwas Schockierendes zu sehen, wie die einstigen Unbürger, die frivolsten und egoistischsten Menschen, diejenigen, die weder gelitten noch gekämpft haben, uns das Vergessen der Kränkungen nahelegen; man führt die Pflicht der Nächstenliebe an und predigt den Opfern eine Verzeihung, um die die Henker selbst sie niemals gebeten haben. Diese Opfer schonend zu behandeln, auf ihre Wunden Rücksicht zu nehmen, ist dies nicht ebenfalls eine Pflicht der Barmherzigkeit? Was die Millionen Vernichteter, was die zu Tode gemarterten Kinder anbelangt, so sind sie genauso wert, die bekennenden Dozenten des Pardon [professeurs du pardon] zu rühren wie die Deutschen und sonstige Sudeten. Und wer, bitte, sind diese nachsichtigen Juristen? Warum haben sie es so eilig, die Seite umzublättern und mit den einstigen SS-Schergen zu sagen: Schluß damit*?

Das Sternchen bei „Schluß damit“ hat nicht die Bedeutung, dem es heute gegeben wird; hier bedeutet das Sternchen, daß diese zwei Wörter auch im französischen Original in deutscher Sprache sind.

Wo waren sie, was taten sie während des Krieges? In welcher Eigenschaft dürften sie es sich herausnehmen, in unserem Namen zu verzeihen? Wer hat sie damit beaufragt oder wer hat ihnen das Recht dazu gegeben? Es steht jedermann frei, die Kränkungen, die er persönlich erfahren hat, zu verzeihen, sofern er es für richtig erachtet. Doch mit welchem Recht würde er diejenigen der anderen verzeihen? Auch Jean Cassou wendet sich an die Freunde der Hitleranhänger. „Wer sind Sie, Sie, die Sie die Verteider der Naziverbrecher spielen? In wessen Namen, für wen, vermöge welcher Prinzipien, im Dienste welcher Interessen, mit welchen Zielen fühlen sie sich befugt zu verlangen, daß man alle gerichtlichten Schritte gegen sie einstellt, daß man sie für alle Zeiten in Ruhe läßt?“

Ein gerade in Österreich zum urösterreichischen Mantra gewordener Imperativ. Ein Imperativ der Schizophrenie. Denn. Gerade jene, die am lautesten und am beständigsten und unentwegt „Schluß damit!“ brüllen, kennen für sich kein Es muß endlich Schluß damit sein! Sie zelebrieren ihr Weiter! – etwa, um ein Beispiel zu nennen, auf der Karnerhöhe.

Was für Halmer und Rundfunk erstaunlich ist:

Als höchste Intensität bezeichnet der „gnadenlose Denker“ Jankélévitch erstaunlicherweise die Liebe. „Gewesen sein, gelebt und geliebt haben“ ist für ihn die einzige Strategie, um das Tremendum des Todes zu relativieren. „Geliebt haben und mehr nicht“ – dieses Erlebnis vermittelt den „ganzen Zauber eines geheimnisvollen Daseins“ […]

Wofür die rundfunklichen halmerischen Ausführungen tauglich sind, und das ist nicht erstaunlich: für eine Predigt in der Kirche. So predigt wortwörtlich Manfred Scheuer, Bischof, am 2. November 2018 im Mariendom Linz im Festgottesdienst zu Allerseelen. Der leitende Angestellte dieser Glaubensorganisation erwähnt Rundfunk und Halmer nicht, dankt ihnen in seiner Predigt nicht dafür, daß sie ihm einen so schönen Teil seiner Predigt verfaßten. Und in dieser Predigt spricht der leitende Angestellte auch von Simone Weil.

Nur eines käme ihm und so vielen vor allem in Österreich nicht in den Sinn, dies von Simone Weil zu zitieren: „Fakten kosten Mühe, Fiktionen nicht.“

Vladimir Jankélévitch sei, so die rundfunkliche halmerische Predigt im Mariendom zu Linz, „gnadenlos“, oh, wie „gnadenlos“ er nur sein konnte, so „gnadenlos“ wie der Österreicher und seine Helfershelferinnen nie hätten sein können, bezeugt auch diese Stelle in „Pardonner?“:

Zu sagen, daß es noch lange brauchen wird, um all die komplexen Verästelungen des Verbrechens aufzudecken, heißt nicht zu sagen, daß die Deutschen kollektiv oder als Deutsche veranwortlich seien: Es gab deutsche Demokraten in den Lagern, und wir verneigen uns tief vor diesen in der brüllenden Masse der anderen, in der Masse all der anderen verlorenen Elite. Man kann die erschütternde Geste von Kanzler Brandt vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos hier nicht mit Stillschweigen übergehen. Und auf der anderen Seite beweist der bewunderungswürdige Mut von Mme Beate Klarsfeld, daß die Elite der jungen deutschen Generation die Elite, von der wir sprechen, zu ersetzen wußte.