Ob Lueger alles, was er so in Schwung und Umlauf brachte, auch wirklich selbst geglaubt hat, ob es in der Tiefe seiner Brust Überzeugung war, stehe dahin. Er hat die Juden wohl kaum in Wahrheit gehaßt.
Er war sicherlich kein großer Mensch. Auch seiner Politik ermangelte die Größe, ihr fehlte der weite Horizont: sie blieb niederösterreichisch, wienerisch, sie blieb an Stadt und Gelände rund um den Stephansturm gebunden.
Das Blut dieses wienerischen Volkes rollte in seinen Adern. Der wienerische, der niederösterreichische Dialekt war seine Muttersprache Die Ideale der Wiener Kleinbürger waren seine Ideale, ihr Behagen war das seine. Was ihnen Lebensgenuß und Sinnenfreude war, da bedeutete für ihn Lebensgenuß und Sinnenfreude.
Deshalb saß er in den rauchigen Beißeln, in den verqualmten Sälen vorstädtischer Wirtshäuser nicht wie ein fremder Gast, nicht wie ein hochgebildeter, nobler Hof- und Gerichtsadvokat, der sich leutselig herbeiläßt, Wählerstimmen zu werben und dabei schlechte Luft zu atmen. Er saß da, als einer von den kleinen, Leuten, er gehörte zu ihnen, er suchte sich aus ihrer Mitte die Tauglichsten, machte sie zu seinen Generalstäblern und pfiff darauf, ob sie Bildung hatten oder nicht. Je weniger Bildung sie besaßen, desto lieber schienen sie ihm zu sein. Verstand mußten sie haben oder ein großes Mundwerk. Wenn er unter seinen Kleinbürgern und Vorstädtern saß, einer von ihnen, dann leugnete er alle anderen Menschenklassen und -arten, dann schimpfte er auf alle, die nicht dazugehörten, auf Professoren und Aerzte, auf Träger von Wissenschaft, auf geistige Arbeiter. Nichts schien zu existieren, nichts schien wert, daß es existierte, als der Kleinbürger, der Vorstädter und sie glaubten ihm. Sie liebten ihn, weil er wirklich einer der ihrigen war und weil sie ihm glaubten. Er hatte die führerlose Herde, zu deren Führer er sich nun aufschwang, schon auf vielen Wiesen und Weiden gesucht.
Vier Jahre später fallen Felix Salten, als er an Karl Lueger erinnert, wieder die Wiesen ein. Vielleicht deshalb, weil Karl Lueger keine Mutter wie das Rehkitz hatte,
Sie gingen weiter. Mit einem Male wurde es ganz hell vor ihnen, strahlend hell. Das grüne Gewirr von Büschen und Sträuchern war zu Ende, die Straße war zu Ende. Nur ein paar Schritte noch, und sie kamen hinaus in die lichte Freiheit, die sich vor ihnen öffnete. Bambi wollte vorwärtsspringen, doch die Mutter blieb stehen.
»Was ist das?« rief er ungeduldig und schon ganz bezaubert.
»Die Wiese«, antwortete die Mutter.
»Was ist das, die Wiese?« drängte Bambi.
Die Mutter schnitt ihm das Wort ab. »Das wirst du schon selber sehen.« Sie war ernst geworden und aufmerksam. Regungslos stand sie, hielt das Haupt hoch, lauschte angespannt, prüfte mit tiefen Atemzügen den Wind und sah ganz streng aus.
»Es ist gut«, sagte sie endlich, »wir können hinaus.« Bambi sprang los, aber sie sperrte ihm den Weg. »Du wartest, bis ich dich rufe.« Im Augenblick stand Bambi gehorsam still. »So ist es recht«, lobte die Mutter. »Und nun merke genau, was ich dir sage.« Bambi hörte, wie erregt die Mutter sprach, und geriet in große Spannung. »Es ist nicht so einfach, auf die Wiese zu gehen«, fuhr die Mutter fort, »es ist eine schwere und gefährliche Sache. Frag‘ nicht, warum. Du wirst das schon später noch lernen. Für jetzt befolge genau, was ich dir sage. Willst du?«
»Ja«, versprach Bambi.
»Nun gut. Ich gehe also vorerst allein hinaus. Bleibe hier stehen und warte. Und schau‘ immer auf mich. Behalte mich unaufhörlich im Auge. Wenn du siehst, daß ich wieder zurücklaufe, hier herein, dann machst du kehrt und rennst davon, so schnell du kannst. Ich hole dich schon ein.« Sie schwieg, schien zu überlegen und fuhr dann eindringlich fort: »Jedenfalls laufe, laufe, was du kannst. Laufe . . . auch wenn etwas geschehen sollte . . . auch wenn du siehst, daß ich . . . daß ich zu Boden stürze . . . achte nicht auf mich, verstehst du? . . . Was immer du siehst oder hörst . . . nur fort, augenblicklich und so schnell wie möglich . . .! Versprichst du mir das?«
»Ja«, sagte Bambi leise.
die Bambi vor der Wiese warnte, die ihm, auch wenn es sie selbst nicht vor einem grausamen Tod bewahrte, einbläute, auch auf der Wiese, stets auf der Hut zu sein.

„Bambi – Eine Lebensgeschichte aus dem Walde“: veröffentlicht vor einhundert Jahren. Damals, vor einhundert Jahren, bekam tatsächlich nur ein Tier den Namen „Bambi“.
In den einhundert Jahren wurden viele Deutungen von „Bambi“ bemüht. Nicht wenige stopften etwa die Jahre nach dem ersten Erscheinen grausam einsetzende Geschichte mit den nationalsozialistischen und faschistischen Massenverbrechen und Massenmorden in „Bambi“ hinein, manche auch den wenige Jahre vor dem ersten Erscheinen beendeten Krieg, manche auch den ewigen sexuellen Mißbrauch, manche den habsburgischen Mythos, es will ihnen der Fürst genannte
»Er ist der Vornehmste im ganzen Walde. Er ist der Fürst. Es gibt keinen zweiten, der ihm gleichkäme. Niemand weiß, wie alt er ist. Niemand kann sagen, wo er wohnt. Niemand kann seine Verwandtschaft nennen. Nur wenige haben ihn jemals gesehen. Manchmal hieß es schon, er sei tot, denn er war so lange nicht sichtbar gewesen, daß man es glaubte. Dann wurde er doch wieder erblickt, nur für einen Augenblick, und so erfuhr man, daß er noch am Leben sei. Niemand hat es je gewagt, ihn zu fragen, wo er gewesen. Er spricht mit niemandem, und keiner wagt es, ihn anzureden. Er geht Wege, auf denen kein anderer geht; er kennt den Wald bis in die fernsten Fernen. Und für ihn gibt es keine Gefahr. Die andern Prinzen kämpfen bisweilen untereinander, manchmal nur zur Probe und zum Scherz, manchmal im Ernst. Mit ihm hat seit vielen Jahren keiner mehr gekämpft. Und von denen, die früher einmal mit ihm gekämpft haben, vor langer Zeit, ja, von denen lebt nun kein einziger mehr. Er ist der große Fürst.«
Rehbock als Kaiser, als Oberförster … Was für eine Interpretation, im Rehbock einen Oberförster auszumachen, wieder einmal einen Oberförster, den es ja in einem anderen Roman schlicht als Oberförster tatsächlich gibt, in einem Roman, dem freilich ebenfalls viele Deutungen widerfahren.
Felix Salten hätte es auch nennen können: eine Todesgeschichte aus dem W…
Bambi wandte sich ab, schlüpfte in den nächsten Busch und verschwand, noch ehe sich die beiden besinnen konnten. Er ging weiter. »Der Junge gefällt mir . . .« dachte er. »Vielleicht treffe ich ihn wieder, wenn er größer ist . . .« Er ging weiter. »Die Kleine«, dachte er, »auch die Kleine ist nett . . . so hat Faline ausgesehen, als sie noch ein Kind war.« Er ging weiter und verschwand im Walde.
So endet der Roman, mit dem Salten etwas, wie ihm fortwährend unterstellt, durch Tiere von Menschen erzählen habe wollen, eines – und diese Deutung wird wohl auch schon irgendwann eine Deutende erfreut, irgendwo einen Interpreten erschaudern haben lassen – Bisexuellen mit inzestiösen …
Als Buch
„Bambi“, eine Lebensgeschichte aus dem Walde von Felix Salten, ist im Verlage Ulstein (Berlin) soeben zur Ausgabe gelangt.
Eine Jurorin in einer österreichischen Kleinstadt am See schreibt in einer deutschen Zeitung, in der sie als „eine der wichtigsten österreichischen Literaturkritikerinnen“ vorgestellt werden muß, zum Anlaße „90 Jahre Bambi“ im Jahre 2013. Neunzig von 2013 abgezogen, ergibt — einerlei, wert ist es, sie mit ihrem Zitat
Eine zeitgenössische Kritik in der Zeitschrift „Der Kunstwart“ setzt das in „Bambi“ gespiegelte soziale Milieu noch eine Stufe tiefer an und bemängelt, es werde im Vorwort von John Galsworthy die „Lebensgeschichte eines Rehs“ versprochen: „Aber ach, es ist nur die Geschichte eines Kleinbürgers, dem ein anderer die Gestalt eines Rehes verliehen hat.“
zu zitieren. Wenn bedacht wird, auf welchem Weg John Galsworthy sich befindet,
BAMBI is a delicious book. For delicacy of perception and essential truth I hardly know any story of animals that can stand beside this life study of a forest deer. Felix Salten is a poet. He feels nature deeply, and he loves animals. I do not, as a rule, like the method which places human words in the mouths of dumb creatures, and it is the triumph of this book that, behind the conversation, one feels the real sensations
of the creatures who speak. Clear and illuminating, and in places very moving, it is a little masterpiece.
I read it in galley proof on the way from Paris to Calais, before a channel crossing. As I finished each sheet I handed it to my wife, who read, and handed it to my nephew’s wife, who read, and handed it to my nephew. For three hours the four of us read thus in silent absorption. Those who know what it is to read books in galley proof, and have experienced channel crossings, will realize that few books will stand
such a test. BAMBI is one of them. I particularly recommend it to sportsmen.
als sie „Bambi“ lesen, es könnten sich weitere und menschgemäß nachträgliche Deutungen …
Mit dem von der Jurorin zitierten „Kleinbürger“ bei Karl Lueger, beim Kleinbürger, beim Denkmalkleinbürger angelangt, beinahe. Davor aber ist ein Unrecht an dem Fuchs doch noch gutzumachen. Vor etwas mehr als einem Jahr schreibt Michael Hille auf „TV-Spielfilm“:
Salten hatte über die Jahre mit angesehen, wie sich die Lage der Juden in der Wiener Gesellschaft immer weiter verschlechterte – und drückte das in seinem „Bambi“-Buch aus. Die Rehe werden bei ihm zur Metapher für das Judentum. Das Buch schildert, wie das Wild von einem gelobten Land träumt, in dem sie eines Tages sicher vor den Menschen sein werden – eine klare zionistische Botschaft. Ferner spielt Salten regelmäßig auf die jüdische Kultur an – und schreibt später von einem Fuchs, der heimtückisch die Menschen zu den Rehen führt und sie verrät. Ein aus heutiger Sicht düsteres Vorzeichen dessen, was nur wenige Jahre später in Europa zur Realität wurde. Der Fuchs als früher „Kollaborateur“ und „Denunziant“.
Aber es ist nicht der Fuchs, es ist der Hund.
Durch Schnee und Stauden, Zweige und Wurzeln sprang, kroch und schlüpfte der alte Fuchs. Gleich hinter ihm brach der Hund heran. Es war richtig ein kleiner Hund auf kurzen Beinen. Dem Fuchs war ein Vorderlauf zerschmettert und dicht darüber das Fell aufgerissen. Er hielt das zerschmetterte Bein hoch vor sich hin, das Blut sprang ihm aus den Wunden, sein Atem pfiff, seine Augen starrten weit vor Entsetzen und Anstrengung. Er war außer sich vor Schrecken und Zorn, er war verzweifelt und erschöpft. Mit einem Male machte er kehrt. Ein drehender Wischer, der den Hund verblüffte, so daß er ein paar Schritte zurückwich. Der Fuchs setzte sich in die Hinterbeine. Er konnte nicht weiter. Den zerschossenen Vorderlauf kläglich erhoben, den Rachen offen, mit zuckenden Lefzen fauchte er dem Hunde entgegen. Der aber schwieg keinen Augenblick. Seine hohe, gequetschte Stimme wurde jetzt nur voller und tiefer. „Da!“ schrie er. „Da! Da ist er! Da! Da! Da!“ Er schalt jetzt nicht auf den Fuchs, sprach in diesem Moment gar nicht zu ihm, sondern rief offenbar jemand anderm zu, der noch weit entfernt war. Bambi ebenso wie der Alte wußten, daß Er es war, den der Hund herbeirief. Auch der Fuchs wußte es. Das Blut strömte jetzt an ihm herunter, stürzte von seiner Brust in den Schnee und bildete auf der weißen eisigen Decke einen brennroten Fleck, der leise dampfte. Eine Schwäche wandelte den Fuchs an. Seine zerschmetterte Pfote sank kraftlos herunter, wurde aber bei der Berührung mit dem kalten Schnee von einem glühenden Schmerz durchstochen. Mühsam hob er sie wieder auf und hielt sie zitternd vor sich in die Luft. „Laß mich . . .“ fing der Fuchs zu reden an. „Laß mich . . .“ Er sprach leise und flehend. Er war ganz matt und ganz demütig. „Nein! Nein! Nein!“ fuhr der Hund mit bösem Jaulen ihn an. „Ich bitte dich . . .“ sagte der Fuchs, „ich kann nicht mehr weiter . . . es ist aus mit mir . . . laß mich fort . . . laß mich heim . . . laß mich doch wenigstens in Ruhe sterben . . .“ „Nein! Nein! Nein!“ heulte der Hund. Der Fuchs wurde noch inständiger in seinem Bitten. „Wir sind doch Verwandte . . .“ klagte er, „beinahe Brüder sind wir . . . laß mich heim . . . laß mich bei den Meinigen sterben . . . wir . . . beinahe Brüder sind wir . . . du und ich . . .“ „Nein! Nein! Nein!“ tobte der Hund. Da richtete der Fuchs sich auf, daß er ganz steil dasaß. Seine schöne spitze Schnauze senkte sich zur blutenden Brust, seine Augen hoben sich und er blickte dem Hunde gerade ins Gesicht. Mit völlig veränderter Stimme, gefaßt, traurig und erbittert knurrte er: „Schämst du dich nicht . . .? Du Verräter!“ „Nein! Nein! Nein!“ schrie der Hund. Der Fuchs aber fuhr fort: „Du Überläufer . . . du Abtrünniger!“ Sein zerrissener Leib straffte sich in Haß und Verachtung. „Du Scherge!“ zischte er. „Du Elender . . . du spürst uns auf, wo Er uns nicht findet . . . du verfolgst uns, wo Er uns nicht einholen kann . . . du lieferst uns aus . . . uns, die wir alle deine Verwandten sind . . . mich, der ich beinahe dein Bruder bin . . . und du stehst da und schämst dich nicht?“ Auf einmal wurden viele andere Stimmen laut ringsumher. „Verräter!“ riefen die Elstern von den Bäumen. „Scherge!“ kreischte der Häher. „Elender!“ pfiff das Wiesel. „Abtrünniger!“ fauchte der Iltis. Von allen Bäumen und aus allen Sträuchern zischte und piepte und schrillte es und aus der Luft kreischten die Krähen: „Scherge!“ Alle waren sie herbeigeeilt, hatten aus den Bäumen oben und aus sicheren Verstecken am Boden den Streit belauert. Die Empörung, die aus dem Fuchs hervorbrach, löste die alte erbitterte Empörung in ihnen allen, und das Blut, das hingeschüttet im Schnee vor ihren Blicken rauchte, machte sie rasend und ließ sie jegliche Scheu vergessen. Der Hund sah sich im Kreise um. „Ihr!“ rief er. „Was wollt ihr? Was wißt ihr? Was redet ihr? Alle gehört ihr Ihm, wie ich Ihm gehöre! Aber ich . . . ich liebe Ihn, ich bete Ihn an! Ich diene Ihm! Ihr wollt euch auflehnen . . . Ihr Armseligen, gegen Ihn? Er ist allmächtig! Er ist über uns! Alles, was ihr habt, ist von Ihm! Alles, was da wächst und lebt, von Ihm!“ Der Hund bebte vor Begeisterung. „Verräter!“ schrillte das Eichhörnchen. „Ja!“ zischte der Fuchs. „Verräter! Niemand als du . . . du allein . . .!“ Der Hund tanzte vor heiliger Erregung. „Ich allein . . .? Du Lügner! Sind nicht viele, viele andere bei Ihm . ..? Das Pferd . . . das Rind . . . das Lamm . . . die Hühner . . . von euch allen, aus allen euern Sippen sind viele bei Ihm und beten Ihn an . . . und dienen Ihm!“ „Gesindel!“ fauchte der Fuchs voll unermeßlicher Verachtung. Da hielt sich der Hund nicht länger und fuhr ihm an die Kehle. Knurrend, spuckend, keuchend rollten sie im Schnee, ein zappelndes, wild um sich schnappendes Bündel, von dem die Haare flogen, der Schnee aufstäubte und das Blut in feinen Tropfen sprühte. Aber der Fuchs konnte nicht lange kämpfen. Ein paar Sekunden nur und er lag auf dem Rücken, zeigte seinen hellen Bauch, zuckte, streckte sich und starb. Der Hund schüttelte ihn noch ein paar Male, ließ ihn dann in den zerwühlten Schnee fallen, stand breitbeinig da und rief wieder mit voller, tiefer Stimme: „Da! Da! Da ist er!“ Die anderen waren entsetzt nach allen Seiten geflohen. „Furchtbar . . .“ sagte Bambi in seiner Grube leise zum Alten. „Das Furchtbarste“, entgegnete der Alte. „Sie glauben an das, was der Hund da verkündigt hat. Sie glauben daran, sie verbringen ihr Leben voll Angst, sie hassen Ihn und sich selbst . . . und sie töten sich um seinetwillen.“
Der Hund ist der Verräter, der Scherge, der Abtrünnige, der Überläufer, der Kollaborateur, der Denunziant … Im Übrigen, Menschen werden in diesem Roman nicht „Menschen“ genannt. Es kommt, kann durchaus gesagt werden, einer, nur ein einziger vor, ein Mann muß es wohl sein, wird dieser doch stets „Er“ genannt, immer mit großem Anfangsbuchstaben, genauso wie jene Figur in den Lüften, die so viele als Mann träumen …
Es muß an diesem Sonntag, 19. September 1926, im Café Prückel — noch nicht.
Vielleicht hat Felix Salten die Rehe als Metapher …. gerade aber im Jahr 1922 war ein Roman erschienen, der ohne Metaphern das Übermorgen schilderte, die Vertreibung … und dann die Ermordung von dessen Verfasser rund eineinhalb Jahre vor dem „Huldigungsfestzuge“ von einem Zahntechniker —
Es kann nicht gesagt werden, ob es mehr Deutungen des Romans von Salten als Vorschläge für die Gestaltung des KL-Platzes gibt, aber ein dritter oder gar schon ein vierter Vorschlag zu den hier schon gemachten, kann gesagt werden: einen an der Kette zerrenden Hund zu Füßen des Kunschak-Gemachten und davor, unerreichbar für Kettenhund und seinen Herrn, eine Wiese, auf der ohne Angst, frei und fröhlich umhertollen, Bambi, Faline, Gobo, der Fuchs …
Nun aber endgültig zum Kleinbürger, von dem Felix Salten ganz ohne Metaphern zu schreiben weiß, und von den Kleinbürgerinnen, auch wenn sie damals noch nicht direkt angesprochen wurden, nicht vorgekommen sind, weil Frauen damals, wenn es denn je wirklich so war, mitgemeint waren, wenn von Männern, von Kleinbürgern —
Es muß an diesem Sonntag, 19. September 1926, im Café Prückel ein seltsames Erlebnis gewesen sein, in der „Neuen Freien Presse“ die „Erinnerung an Lueger“ zu lesen, ab und an aufzuschauen, hinauszuschauen auf den KL-Platz, mit den Hunderttausenden … die „Erinnerung an Lueger“ von Felix Salten zu lesen und dabei die Rufe bis in das Prückel herein zu hören: „Hoch Kunschak! Servus Poldl!“
Dieses sonderliche Erlebnis im Café Prückel an einem Sonntag vor sechsundneunzig Jahren kann nicht geboten werden, also zur Gänze, es können nicht die Hundertausenden aufgeboten werden, es können nicht die Hoch-Kunschak-Rufe zum Erschallen gebracht werden, aber das Erlebnis, Saltens „Erinnerung an Lueger“ zu lesen:
Das kann sonst gut und gern ein halbes, auch ein ganzes Jahrhundert dauern, bis einem großen, einem verdienten, einem merkwürdigen Mann sein Denkmal gesetzt wird. Die Nachwelt ist ja immer unberechenbar. Zuweilen besinnt sie sich sehr langsam. Dann wieder geht sie augenblicklich entschlossen ans Werk. Mit dem Lueger-Denkmal hat sie es offenbar recht eilig gehabt. Im Grunde kann dabei von einer Nachwelt kaum die Rede sein. Dieses Monument wird von der hinterbliebenen Mitwelt des merkwürdigen Mannes errichtet. Von seinen Zeitgenossen. Genauer: von der Partei, deren Begründer er war. Ganz genau: von denjenigen seiner Freunde, die durch seinen Aufstieg einst mit in die Höhe gelangten. Wer Luegers Aufstieg mit angesehen hat, diesen beispiellosen Aufstieg in eine beispiellose Popularität, kann es jetzt wie einst seinen Freunden, allen seinen Anhängern und Verehrern ruhig bezeugen, daß er ein merkwürdiger Mann gewesen ist, der Dr. Karl Lueger. Merkwürdig und interessant. Auf der politischen Bühne ein hochbegabter, ja, ein hinreißender Spieler. In den letzten Dezennien des alten Oesterreich die repräsentativste Gestalt. Das kann man wohl sagen, selbst wenn man gar keine Ursache hatte, sich seinen Freund oder seinen Verehrer zu nennen. Er war sicherlich kein großer Mensch, doch ebenso gewiß bleibt es, daß er ein voller und echter Mensch war wie sehr wenige. Auch seiner Politik ermangelte die Größe, ihr fehlte der weite Horizont: sie blieb niederösterreichisch, wienerisch, sie blieb an Stadt und Gelände rund um den Stephansturm gebunden. Aber auf diesem Boden war er ein meisterhafter Politiker, ein politischer Zauberer, für sich, für die von ihm geschaffene Partei, für den Augenblick. Diesen Boden da hat er verstanden, dieses Volk, dessen Bedürfnisse, dessen Neigungen und dessen Liebhabereien hat er verstanden wie kein anderer in seinen Tagen. Das Blut dieses wienerischen Volkes rollte in seinen Adern. Der wienerische, der niederösterreichische Dialekt war seine Muttersprache. Die Ideale der Wiener Kleinbürger waren seine Ideale, ihr Behagen war das seine. Was ihnen Lebensgenuß und Sinnenfreude war, da bedeutete für ihn Lebensgenuß und Sinnenfreude. Deshalb saß er in den rauchigen Beißeln, in den verqualmten Sälen vorstädtischer Wirtshäuser nicht wie ein fremder Gast, nicht wie ein hochgebildeter, nobler Hof- und Gerichtsadvokat, der sich leutselig herbeiläßt, Wählerstimmen zu werben und dabei schlechte Luft zu atmen. Er saß da, als einer von den kleinen, Leuten, er gehörte zu ihnen, er suchte sich aus ihrer Mitte die Tauglichsten, machte sie zu seinen Generalstäblern und pfiff darauf, ob sie Bildung hatten oder nicht. Je weniger Bildung sie besaßen, desto lieber schienen sie ihm zu sein. Verstand mußten sie haben oder ein großes Mundwerk. Wenn er unter seinen Kleinbürgern und Vorstädtern saß, einer von ihnen, dann leugnete er alle anderen Menschenklassen und -arten, dann schimpfte er auf alle, die nicht dazugehörten, auf Professoren und Aerzte, auf Träger von Wissenschaft, auf geistige Arbeiter. Nichts schien zu existieren, nichts schien wert, daß es existierte, als der Kleinbürger, der Vorstädter und sie glaubten ihm. Sie liebten ihn, weil er wirklich einer der ihrigen war und weil sie ihm glaubten. Damals wurden die äußeren Vorstädte gerade ins Gemeindegebiet Wiens miteinbezogen. Es gab auf einmal statt zehn Bezirke deren zwanzig. Der kleine Raum in Wien wuchs zu einer ungeheuren Zahl. Lueger vereinigte diese kleinen Leute zu einer ungeheuren Armee. Und mit dieser Armee erkämpfte er seine Macht. Es war eine Zwischenzeit damals.·Der Liberalismus hatte die breite Masse wohl nie erobert und verlor täglich mehr von den Anhängern, die er sonst besaß. Die. Sozialdemokratie konnte die Masse noch nicht durchdringen. Ihr standen zu starke obrigkeitliche Hemmungen entgegen. Aber die Masse war da, sie war wichtig, sie wurde wichtiger von Tag zu Tag. Lueger kam und fing sie ein. Er hatte die führerlose Herde, zu deren Führer er sich nun aufschwang, schon auf vielen Wiesen und Weiden gesucht. Er war bei den Liberalen gewesen, er war von ihnen weg zu den Demokraten gegangen;er hatte in Schönerers »Wacht am Rhein“ eingestimmt. Aber man liebte ihn nirgendwo und er selbst mochte nirgendwo bleiben. Den anderen schien sein Ehrgeiz zu heftig, sein Machtwille zu deutlich. Und ihm selbst wollte keines dieser politischen Lieder gefallen. Sie wirkten nicht. Sie hatten zu wenig Zündkraft. Sie brachten keine Popularität, er spürte das. Nicht die Popularität, nach der er sich sehnte. So begann er selbst ein Lied anzustimmen. Ganz in der Weise, wie den Kleinbürgern, wie ihm selbst der Schnabel gewachsen war. Es klang gassenhauerisch. Aber der Gassenhauer wirkte; er brachte den Erfolg, er brachte die heißersehnte Popularität, den großen Sieg und die Fülle der Macht. Ob Lueger alles, was er so in Schwung und Umlauf brachte, auch wirklich selbst geglaubt hat, ob es in der Tiefe seiner Brust Überzeugung war, stehe dahin. Er hat die Ärzte, die Professoren, die Bildung und die Juden wohl kaum in Wahrheit gehaßt. Er war ein echter Wiener Kleinbürger, das heißt also, er war kein richtiger Hasser, nur ein rechter Schimpfer. Aber er hatte den tiefen Brustton der Überzeugung, wenn er auf der öffentlichen Bühne stand und seine Reden schwang. Gott im Himmel, was waren das für Reden. Bekam ein denkender Mensch sie zu lesen, dann mußte er lächeln. Denn das alles schien demagogische Phrase, ohne rechten Kern, ohne stichhältigen Zusammenhang, manchmal im Sachlichen treffend, dann gleich wieder tendenziös reizend und für die billigsten Effekte hergerichtet. Hörte aber ein denkender Mensch zu, wenn Lueger redete, dann half es gar nichts, ein denkender Mensch zu sein. Dann vergingen einem die eigenen Gedanken, dann war man von einer elementaren Gewalt ergriffen und wehrlos mit fortgerissen. Aus Luegers Reden klang das aufbrausende Reschsein, der Jähzorn, die Schlagfertigkeit der Fiaker, der Greißler, der Bierwirte und Handelweiber. Aus seinen Reden sprühte der Humor, der Witz, die Frohlaune des Wiener Volkes, das Händepaschen und Dudeln der Heurigenschenken, das Schnalzen und Juchzen der Volkssänger, die Feierlichkeit, die bei Veteranenvereinen üblich ist, und gleich wieder die immer rauflustige Bereitschaft zum Zank, wie sie in kleinen Mietsparteien auf Stiegen, Gängen und in den Höfen riesiger Zinskasernen eigen ist. In Luegers Beredsamkeit war tatsächlich die Wiener Rednergabe zum Element gesteigert. In seiner vollen Baritonstimme, die gleichsam von den Rauchwolken zahlloser Versammlungen durchzogen schien, hörten sich die Wiener sprechen. Sie sahen sich verkörpert in Luegers hochgewachsener und doch behäbiger Figur. In seinem Antlitz sahen sie ihr Wesen erfüllt. Denn es war schön dieses Antlitz, trotz dem schielenden Doppelblick der kleinen hurtigen, klugen Augen, trotz dem spöttischen Zug des Mundes, den der Vollbart verbarg. Er war mit eben diesem in der Mitte geteilten Vollbart, war mit der hohen Stirne und der kleinen netten Nase eines kleinen netten Jungen immer ein schöner Mann, nach dem Geschmack der Vorstand von damals. Er war ein fabelhaftes Temperament, ein Menschenfänger ohnegleichen, ein genialischer Schauspieler und eine prachtvolle Natur. Auch die Gegner vermochten es kaum, dem Reiz seiner Persönlichkeit zu entziehen. Das war die Kraft des Liebenswürdigen, des Sinnlichen, des Lebensfreudigen, des Musikalischen, kurz des Wienerischen an Lueger. Wie hatte er die Massen bezaubert, zu denen er nur sprach, was sie gerne hören wollten, die er des Respektes entband vor allem, was sie ohnehin nicht begriffen und die er in ihrem geliebten, bequemen „Mir-san-mir“-Dünkel rückhaltlos bestärkt hat. Der Ehrgeiz dieses Mannes trachtete nicht nach dem Portefeuille des Ministerpräsidenten Er wäre, auf dem Gipfel des Erfolges, sicherlich an die Spitze der Regierung berufen worden, wenn er das gewollt hätte. Lueger hatte sich ein anderes Ziel gesetzt. Von Anfang an. Schon alo er bei den Liberalen begann, als er dann die Parteien wechselte, immer war es die Idee, die ihn beherrschte, war es das Leitmotiv seines Strebens: Bürgermeister von Wien zu werden! Zuerst, da er noch ein kleiner, unbekannter Abgeordneter war, hielt man solche Begehren für vermessen. Später schien dieser Wunsch des populärsten aller Politiker rätselhaft bescheiden. Bürgermeister von Wien, freilich, das·war immer ein·hohes, ein wichtiges Amt. Nur, daß die einzigartige Stellung Luegers ihn befähigte, nach höherem, nach dem Höchsten zu greifen. Doch er griff nicht danach. Er trug eine neue, eine größere Auffassung der Bürgermeisterrolle in seinem Herzen. Und er hat diese Rolle dann gespielt, so äußerlich blendend, wie nie einer je vor ihm. Er saß auf dem Bürgermeisterstuhle weitab von all den Machenschaften, die im Parlament so leicht eine ganze Ministerbank umstürzen. Er saß, der wechselnden kaiserlichen Gnade weniger erreichbar, inmitten der Liebe des Wiener Volkes und von ihr behütet. Nichts konnte sein Amt, nichts seine Macht erschüttern. Seine persönliche Macht hatte er dem Kaiser Franz Josef vorher schon gezeigt. Das war an jenem Morgen, da Lueger in der Fronleichnamsprozession dem Baldachin voranschritt. Als Vizebürgermeister. Damals durfte er nicht Bürgermeister sein, denn der Kaiser hatte ihm dreimal die Bestätigung geweigert. Nun schritt er in der Prozession vor dem Baldachin einher und auf dem ganzen Weg umbrauste ihn der Jubelruf der Wiener. Franz Josef, der dem Baldachin folgte, ging im Kielwasser dieser Lueger-Ovationen. Und das war bitter für ihn. Denn Franz Josef, eifersüchtig auf die Sympathie der Wiener, wurde gereizt, wenn sie einem anderen als ihm Hoch riefen. Er hatte in seiner eifersüchtigen Unduldsamkeit schon Minister entlassen und Erzherzoge verbannt, weil sie in Wien zu beliebt wurden. Den Mann vor sich da,·der alle Begeisterung in Anspruch nahm, der dem Kaiser nichts zurückließ als das eisige Schweigen der Menge, diesen Mann mußte er dulden, und er mußte ihn kurze Zeit nachher auch richtig noch als Bürgermeister bestätigen. Und Lueger wurde nicht bloß der Bürgermeister, er wurde der unumschränkte Gebieter, er wurde der gefeierte Liebling der neuen, großen Stadt Wien. Er wurde der Großunternehmer der Straßenbahn, der elektrischen Beleuchtung. Er nahm alles Erreichbare in städtische Regie, den Tod und das Leben, die Leichenbestattung und die Kinderschulen, Feuer und Wasser, sogar die monarchische Gesinnung und die Kaisertreue. Jetzt begriff man, was für ein großer Herr der Bürgermeister von Wien ist. Es kam eine Zeit des Siegesrausches für den Mann, der nun sein Ziel erreicht, seinen Daseinstraum verwirklicht hatte. Es kam eine Zeit der Orden und Titel für Lueger, dem man es danken mußte, daß Thron und Altar wieder so feste Stützen fanden. Es kam eine Backhendelzeit für alle seine Getreuen. Und es kam ein durch Jovialität gemildertes Gewaltregiment für die Gegner. Dann aber kamen andere Dinge. Der Schuhmeier kam und war ungefähr aus dem gleichen Holz, redete die gleiche Mundart, nur ursprünglicher, volkstümlicher. Und er war jünger. Er war ebenso elementar in seiner Beredsamkeit und in seiner erfrischenden Jugend. Wenn Lueger die Werke von Ibsen gekannt hat, mag er damals wohl öfter an den alternden Baumeister Solneß gedacht haben. Die Krankheit kam, die ihn zermürbte, die ihm das Augenlicht raubte und ihn zum Schatten seiner selbst werden ließ. So trat er, am leuchtenden Sommertag des Jubiläumsfestzugs, beim Burgtor an die Kaisertribüne. Franz Josef, der älter als war Lueger, aufrecht, gefeiert, von Ovationen umbrandet, und sah den gefährlichen Rivalen um die Gunst der Wiener vor sich als gebrochenen, vom Tod gezeichneten Mann. Jetzt wird ein völlig verändertes Wien das Lueger-Denkmal sehen. Ein Wien, das nicht mehr allzuviel an Franz Josef denkt und das von Lueger nicht mehr allzuviel weiß. Die Welt rollt weiter. Man hat ein seltsames Gefühl, wenn einem Menschen, dessen Schicksal miterlebt, dessen Werden und Vergehen man mitangeschaut hat, ein Monument gesetzt wird. Als man seine Aufrichtung beschloß, war das Lueger-Denkmal wohl als Siegeszeichen gedacht, als ein Werk, das die Pietät seiner glücklichen Erben künden solle. Jetzt ist es ein Erinnerungszeichen mehr an die Vergänglichkeit alles Irdischen, aller Erfolge und aller Macht. Und es wirkt wie ein Abschluß eines Kapitels aus der Geschichte Wiens und eines Oesterreichs, das einmal war.
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