Es ist die Vorstellung nicht von der Hand zu weisen, daß nationalsozialistische Gesinnungsgänger der Literatur in Gedichtsammlungen ihren Unterschlupf bis heute finden. In denen nationalsozialistische Gesinnungsgängerinnen der Literatur bis heute wohlbehütet sind, in denen sie als nichts anderes erscheinen, als ach, gar zarte Menschen des lyrischen Worts, gänzlich ohne Biographie.
Besonders in Anthologien, die bereits in ihren Titeln von Jahrhunderten sprechen, wie „Zeit und Ewigkeit – Tausend Jahre österreichische Lyrik“ etwa, oder eben auch „Der ewige Brunnen – Ein Hausbuch deutscher Dichtung – Gesammelt und herausgegeben von Ludwig Reiners“ mit der Klappentextankündigung, „in den Gedichten spiegeln sich die Lebenserfahrungen aus acht Jahrhunderten“ …
In beiden Gedichtsammlungen, um diese zwei nur als Bespiele heranzuziehen, sind dieselben zu finden – Weinheber, Ginzkey, Mell …

Durch die Jahrzehnte, freilich raffinierter geworden. Von „Zeit und Ewigkeit“ aus dem Claassen-Verlag, in der „2. völlig neu bearbeiteten und erweiterteren Auflage 1980“, zum „Hausbuch Der ewige Brunnen“ aus dem Verlag C. H. Beck, „4. Auflage der Jubiläumsausgabe, 2015, gesammelt und herausgegeben von Ludwig Reiners, aktualisiert und erweitert von Albert von Schirnding“.
Durch die Jahrzehnte raffinierter geworden? Nein. Und Ja. Dies endgültig zu beantworten, vielleicht nicht möglich.
Albert von Schirnding schreibt in seinem Vorwort, „Ludwig Reiners hat seine bewunderswerte und überaus erfolgreiche Sammlung deutsche Gedichte 1955 …“ und „ein ‚Hausbuch‘ gehört (beinahe wie die Bibel) zum täglichen Dasein, ist möglichst immer griffbereit,“ und so weiter und so fort.
Ludwig Reiners, ein NSDAP-Mitglied mit vornehm vorgebrachten Antisemitismus, das ist von ihm, Schirnding, und vom Verlag, Beck, in diesem Buch nicht zu erfahren. Raffiniert? Vielleicht.
Raffiniert hingegen die schirndingsche Feststellung im Vorwort:
Der Bearbeiter sah sich der grundsätzliche Frage konfrontiert, ob es sich bei einer so umfangreichen lyrischen Sammlung eher um ein Nachschlagewerk oder eine Anthologie handelt. Wohl um beides; wo aber Konflikte bei den leitenden Auswahlkriterien auftraten, fiel die Entscheidung zugunsten der Qualität und einer gewissen Überzeitlichkeit. So wird man die „Wacht am Rhein“ in der Neuausgabe nicht mehr finden und hoffentlich auch nicht vermissen. Inzwischen ist man auch gegen manche Autoren, die trotz der ihnen im Dritten Reich zuteil gewordenen Förderung in den fünfziger Jahren noch immer angesehen waren, kritischer eingestellt. Begabungen wie Agnes Miegel oder Börries von Münchhausen sollen nicht ganz fehlen, sie waren aber meines Erachtens bei Reiners überrepräsentiert. Selbstverständlich haben Gedichte von Karl Bröger, Heinrich Lersch oder gar Edwin Erich Dwinger in einem Hausbuch deutscher Dichtung nichts mehr zu suchen.
Ach, die armen, armen Autorinnen, gegen ihren Willen, ach, die armen, so armen Autoren, wehrlos gegen die ihnen im Dritten Reich zuteil gewordene Förderung …
Oh, wie „kritischer eingestellt“ hingegen etwa ein Medium der FPÖ in Österreich, die Jan Böhmermann vor Kurzem, um den Menschen in Deutschland konkret veranschaulichen zu können, mit welcher Partei in Deutschland die FPÖ zu vergleichen ist, die FPÖ mit der NPD verglich, wie kritischer hingegen also diese österreichische Gesinnungsgemeinschaft, wenn sie von „Verwicklungen mit dem NS-Regime“ schreibt …
Es würde das Kapitel über diese Hausbibel zu lang werden, würden alle erwähnt und angesprochen werden, die in dieser Sammlung …
Unerwähnt soll dennoch nicht ganz das eine oder andere noch bleiben.
Franz Karl Hatschi-Nazi Ginzkey mit seinem Lobgedicht auf Abraham a Sancta Clara, der selbst auch in dieser Hausbibel vorkommt: „Ein Mann, der mehr uns gab als nahm (wie schwer ist solcher Kunst Bestand), das war Herr Pater Abraham, auch Bruder Fabelhans genannt …“ Und was „Fabelhans“ gab, auch dem Nationalsozialismus, davon wurde in einem Kapitel bereits erzählt: „Zigeuner seynd des Judä Iscarioths nahe Brüder und Anverwandte – Dergleichen Lumpen-Gesind auch die Zigeuner seynd …“
Daß mit beiden Büchern der Zuneigung gefrönt wird, Gedichte auch von Unbekannten zu bringen, etwa dieses über Prinz Eugen, in der einen Bibel unter „Aus der Geschichte“, in der anderen Bibel unter „Soldatenlied“ …
„Wikipedia“ erzählt ebenfalls nichts im Beitrag über den „ewigen Brunnen“, daß Ludwig Reiners ein NSDAP-Mitglied war. Immerhin aber ist aus diesem Beitrag über den „ewigen Brunnen“ zu erfahren, daß vom Herausgeber neu aufgenommen wurde: Georg Britting — —
Georg Britting, ach …
Zu Ludwig Reiners gibt es einen eigenen Beitrag in der Enzyklopädie „Wikipedia“: „Während des Dritten Reiches war Reiners Mitglied der NSDAP, was auch seiner beruflichen Stellung geschuldet war.“
Oh, was einer beruflichen Stellung alles geschuldet ist …
Die Herausgeber von „Zeit noch Ewigkeit“ und auch von „Der ewige Brunnen“ fühlten wohl, eine Hausbibel ohne die „Todesfuge“ von Paul Celan wäre unvollständig. Aber so raffiniert war Ludwig Reiners noch nicht, die „Todesfuge“ in sein „Volksbuch deutscher Dichtung“ aufzunehmen, obgleich er es hätte kennen müssen. 1948 erstmals in „Der Sand aus den Urnen“ veröffentlicht, die „Todesfuge“, ein zweites Mal 1952 in „Mohn und Gedächtnis“, zweimal veröffentlicht also, bevor es zur ersten Veröffentlichung des Volksbuchs deutscher Dichtung …
Ja, „Der ewige Brunnen“ wurde einst auch als „Volksbuch deutscher Dichtung“ betitelt, ehe es zum „Hausbuch“ wurde, das beinahe wie die Bibel …
Im „Volksbuch deutscher Dichtung“ darf „Lili Marleen“ von Hans Leip – auch einer, der sich der Förderung im Dritten Reich nicht erwehren konnte – nicht fehlen, in der Rubrik „Aus der Geschichte“, auf Seite 533, auf Seite 535 dann die „Todesfuge“ unter „Aus der Geschichte“, auf Seite 543 als Abschluss von „Aus der Geschichte“ dann „An die Völker der Erde 1945“, dies wohl gedacht als Moral der Geschichte, was aus der Geschichte gelernt werden nur kann: Raffinesse …
Denn eine dermaßen raffinierte Einreihung des Nationalsozialismus zu den üblichen Verbrechen der Völker, eine derart raffinierte Schuldverteilung auf „alle Völker der Erde“ wurde noch nicht gelesen, eine derart raffinierte Eigenerhebung zum Opfer, eine derart raffinierte Verkleinerung der eigenen Taten zu den üblichen Taten der Völker wurde noch nicht gelesen, und noch einmal raffinierter auch dadurch, daß es ein Gedicht von Werner Bergengruen …
Völker der Erde, Ihr haltet Euer Gericht
Völker der Erde, vergeßt dieses Eine nicht:
Immer am lautesten hat sich der Unversuchte entrüstet,
immer der Ungestoßne gerühmt, daß er niemals gefallen.
Völker der Welt, der Ruf des Gerichts gilt uns Allen.
Alle verklagt das gemeinsam Verratne, gemeinsam Entweihte.
Völker, vernehmt mit uns Allen das göttliche: Metanoeite!
Alle sollen Buße tun. Wie muß dies einem NSDAP-Mitglied aus dem Herzen gesprochen haben, wie müssen Ludwig Reiners das 1955, als sein „Volksbuch“ zum ersten Mal erschien, und mit ihm so viele in Deutschland die Tränen wie aus Kübeln geflossen sein, beim Lesen dieses Gedichts in Erinnerung an ihre zwölf Jahre der Versuchung, an ihre zwölf Jahre des Gestoßenseins, an ihre zwölf Jahre der Folterung und des Leidens, Tränen eimerweise weiter fließen, beim heutigen Lesen dieses Gedichts, sie sich dabei an die Geschichten ihrer Großeltern, Eltern erinnern, an deren zwölfjährige Folterung, zwölfjähriges Leiden, zwölfjähriges Gestoßenseins, Versuchung …
Völker, Ihr zählt, was an Frevel in diesem Jahreszwölft geschehen.
Was gelitten wurde, hat keiner von Euch gesehen,
keiner die Taufe, darin wir getauft, die Buße, zu der wir erwählt,
und der Engel allein hat Striemen und Tränen gezählt.
Er nur vernahm durch Fanfarengeschmetter, Festrufe und Glockendröhnen
der Gefolterten Schreien, Angstseufzer und Todesstöhnen,
er nur den flatternden Herzschlag aus nächtlichen Höllenstunden,
er nur das Wimmen der Frau’n, denen die Männer verschwunden,
er nur den lauernden Schleichschritt um Fenster und Pforten,
er nur das Haßgelächter der Richter und Häftlingseskorten —
Völker der Welt, die der Ordnung des Schöpfers entglitt,
Völker, wir litten für Euch und für Verschuldungen mit.
Litten, behaust auf Europas uralter Schicksalsbühne,
litten stellvertretend für Alle ein Leiden der Sühne.
Völker der Welt, der Abfall war allen gemein:

PS „Alte Traditionen“ leben wieder auf, „im Stile Tschechows“, wie aus einer Programmankündigung für den 29. Jänner 2022 zu lesen ist, Ben Becker werde aus dem „Volksbuch Der Ewige Brunnen“ deutsche Verse sprechen, menschgemäß um einige durch ihn, Becker, als passend empfundene Gedichte erweitert, vielleicht um jene, die Albert von Schirnding nicht mehr … zu befreien, oh ehrenhaftes Ansinnen, von Verstaubtheit, die nur angeblich wie die Zeit nun so reif, aus Staub neues Leben zu erwecken …
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