Die Spendenden in Zeiten der Krisen …

Es sind wieder Zeiten der Krisen.

Wieder einmal die Zeit der Bereitschaft, sich anzustecken.

Recht alte Rezepte hervorzuholen, der Quarantäne durch Backen Gehalt zu geben.

Vieles kommt wieder in Erinnerung.

Menschen erinnern sich mit einem Male daran, auch die Kulturtechnik des Lesens zu beherrschen. Sie erkennen, das Lesen ist nicht allein für das Lesen von Rezepten geschaffen. Sie besinnen sich, das Lesen taugt auch zum Lesen von Literatur. Wie die verschreckte Person einst sitzen sie nun vor Büchern, und machen sich ihre Gedanken.

Bloß in diesem einen Fall. Was könnten sie lesen. In dieser Krise. Sie holen zwei Bücher hervor. Von denen sie meinen, das sind die zwei Bücher, die in so einer Krise unbedingt zu lesen sind. Darin gleichen sie der verschreckten Person, die ihre zwei Äpfel lange ansah. Sie müssen aber, nicht wie die verschreckte Person, nur kurz nachdenken, welche zwei Bücher zu dieser Krise passen. Es ist anrührend, es geht zu Herzen, ihnen beim Lesen der zwei Bücher zuzusehen, zuzuhören. Wäre Krieg und sie lägen in einem Schützengraben, würden sie wohl, so reich ist ihr Wissen, zwei andere Bücher hervorholen, ihre Köpfe tief in deren Seiten vergraben, um aus diesen zwei Büchern zu erfahren, wie das ist, in einem Krieg zu sein, tief im Schlamm der Schützengräben versunken, oh, moderne Zeiten, nicht mehr tief im Schlamm eines Schützengrabens, sondern einsam vor einem verschmierten Monitor mit einem verdreckten und klebrigen Joystick als Sturmgewehr und auf einem zweiten Monitor die Übertragung der Lesungen, vorgetragen von den Notabeln des Landes im getragenen Tone, von „In Stahlgewittern“ und „Im Westen nichts Neues“ …

Von einem Apfel wurde schon erzählt. Mit dem die bange Frage verbunden, wohin wird das Äpfelchen diesmal gerollt werden, nach dieser Krise Das Äpfelchen wird, jedenfalls läßt die Richtung, in das es nun geworfen wurde, rollen – in ein altes, sehr altes Loch …

Von einem zweiten Apfel ist noch zu berichten, dessen Geschichte Marieluise Fleisser vor langer Zeit erzählte, die Geschichte von der verschreckten Person und dem Mann, der es sich dies hoch anrechnetDiese Geschichte von einem Mann, der sich das hoch anrechnet, brachte in diesen Tagen der Krise eine Regierung in Erinnerung, die es sich hoch anrechnet — —

Da war einmal ein Mädchen, dem ging es schlecht. Das Mädchen war sehr schüchtern, hauptsächlich darum ging es ihm schlecht. Es war ihm nicht immer so gegangen. Zwar war es seit jeher ein verschlossenes Kind und blieb viel allein. Immerhin kamen an bestimmten Tagen Freundinnen von der Sorte, daß sie hinterher beim nächsten Straßeneck stehenbleiben und einen ausrichten. Sie blieben ein bißchen sitzen, jede in einer anderen Haltung, die ihr schön vorkam, tranken Tee, aßen, was man so daheim hat, und niemand machte sich darüber einen Gedanken. Denn wenn der Tee aus war, holte das Mädchen einen neuen von seinem bestimmten Laden und der Kommis dort war auch kein bißchen böse über den Verbrauch, er lächelte freundlich und lief an die Tür. Im stillen hätte er es gerne so gut gehabt wie die gedankenlose Person.

Denn sie war eine gedankenlose Person. Bloß in einem bestimmten Fall machte sie sich ihre Gedanken. Denn wenn die Freundinnen bei ihr im Zimmer saßen und das Gespräch kam auf einen merkwürdigen Menschen, den etwa eine von ihnen kannte, dann hatte die es sehr wichtig und ging im Zimmer hin und her und wußte alles von ihm bis auf seinen Schneider.

Sie aber, von der wir insbesondere reden, hatte einen Freund, und er war merkwürdig in mehr als einer Beziehung. Sein Haar trug er lang. Gallischer Witz funkelte auf seiner Lippe. Kräftig war er und behend, er spielte Fußball und schrieb. Er hatte die Augen von einem hochherzigen Räuber.

Wer ihn kannte, der mochte nicht mehr von ihm weg, so einzigartig war er. Sie dachte, wenn ich anfinge, von ihm zu reden, so wäret ihr alle miteinander ganz krank vor Neid und möchtet ihn mir gerne ausspannen. Deswegen redete sie nicht von ihm.

Jeden Tag dachte sie, ist es nicht herrlich, was für einen unvergleichlichen Freund ich habe. Da wurde alles so reich, wenn er kam, und die Einfälle hüpften ihm nur so heraus. Er sprach eine Masse und legte sich hin im Sprechen, wie er sich bei jedermann hinlegte, und sie ließ ihn, wie jedermann ihn ließ und aus ihm ein Wesen machte.

Tat er es mit dem Gang wie ein Panther, mit seinem freien Hals, tat er es mit den Augen, in denen tief ein Rätsel steckte und an ihr ritzte, tat er es mit dem Lächeln, das übersprang? An ihn war sie verloren, es konnte gar kein anderer sein. Nachts liefen sie stundenlang zusammen in den Straßen herum. Eine solche Gewalt war in ihr, und der Mond war so schön, sie hätte den Mond aufessen können.

Aber sie durfte nur weiblichen Umgang haben, einen anderen hatte der Freund ihr verboten. Und so hing es nach einer Seite, denn sie hätte doch immer gern die gescheiten Menschen gekannt. „Eines Tages“, sagte er, „werde ich von dir gehn, dann ist immer noch Zeit für die anderen.“ Dann weinte sie. Er sagte es ihr oft vor, denn er dachte, das bin ich meiner genialen Veranlagung schuldig. Und so weit hatte er sie, daß sie solche Reden von ihm ertrug und ihn nicht verließ. Denn dies hatte er ihr eingefleischt, daß sie vor allen Dingen Nachsicht haben mußte mit seinen Schwächen.

Die Zeit verging, die Mark fiel, die Freundinnen blieben aus. Es kam jener Tag, an den es ihr ging wie vielen, ihr kleines Kapital war nur noch sehr wenig wert. Diesmal z. B. konnte sie nicht mehr daran denken, sich was zum Anziehen zu kaufen. Sie fror im Zimmer, das nicht geheizt war. In der galoppierenden Armut fand sie sich nicht zurecht.

Sie hatte so wenig Wirklichkeitssinn. Sie war wie in einem großen Wald, aus dem sie nicht herausfand. Oder sie war wie ein Taubstummer auf der Straße, und wen sie in der ihr eigentümlichen Sprache ansprach, siehe, er ging weiter und machte sich nichts zu wissen von ihren ungelenken Zeichen. Was sie gelernt hatte, war brotlos. Sie wußte nicht, wie die Menschen sich untereinander bewegen und durch welche geheime Vergünstigung einer es so weit bringt, daß er seiner bestimmten und bezahlten Arbeit nachgeht. In ihrer Unkenntnis stellte sie sich das viel rätselhafter vor, als es in Wirklichkeit war, und da keiner ihr eine Anleitung gab, blieb sie immer verschreckter in ihren vier Wänden sitzen und scheute an den Menschen. Und jetzt war sie richtig ein Mädchen, dem es schlecht ging. Die Mark war schon wieder weniger wert.

Der Freund kam immer noch und tat, als merke er nicht, wie hungrig sie es hatte, so zartfühlend war er, und er rechnete es sich hoch an. Es war eben ein unvergleichlicher Freund, und es wäre nicht angegangen, ihn aus seinen inspirierten Zuständen in ihre Niederungen herabzuziehen, wo es sie auf den Boden preßte. Auch er lebte von der Hand in den Mund, blitzartig konnte er sich dann wieder helfen. Er nahm es nicht genau mit dem Gesetz, aber er zog sie da nicht hinein. Er sagte, „komm, wir gehen einmal wieder miteinander spazieren.“

Dann wußte sie immer eine Ausrede, bald war sie krank, bald war es ein anderer Grund, und jedenfalls mußte sie sich in ihrem Zimmer verhalten. Sie wollte aber nicht, daß er sich an ihrer Seite genieren müsse, für ihr altes Kleid. Wenn er mit ihr allein war, sah er von dem ärmlichen Kleid ganz ab, und alles rechnete er sich hoch an.

Da kam an einem merkwürdigen Tag eine frühere Freundin, über die man sich nie etwas gedacht hatte, und wollte nicht sagen, warum sie kam, sie nahm auch keinen Tee an und als sie ging, lagen auf dem Tisch zwei große, gelblich duftende Äpfel, die hatte sie mitgebracht. Unsere verschreckte Person saß lange da und sah sich ihre zwei Äpfel an, einen ganz roten Kopf hatte sie bekommen. Es überwältigte sie, daß man ihr in der galoppierenden Armut etwas schenkte und nicht einmal etwas dafür verlangte.

Sie roch an dem Apfel, und gerade an einem Apfel hatte sie schon lange nicht mehr gerochen, sie sagte sich vor, daß sie ihn ganz allein aufessen konnte, und aß. Dabei hielt sie ständig den anderen Apfel im Auge, als könnte er ihr ungefähr wieder genommen werden. Den wollte sie nämlich für den Freund aufheben, bis er einmal wieder kam.

Sie rieb ihn ab mit zärtlichen Händen, bis er überall einen gleichmäßigen Glanz annahm. Sie legte ihn in eine Schale, und wie er so darinnen lag in Erwartung dessen, für den er bestimmt war, war er für sie noch einmal so schön.

Sie konnte kaum die rinnende Zeit mehr ertragen, bis der Freund erschien. Sie wollte ihm an die Tür entgegengehn und sagen, ich habe lange nichts mehr für dich gehabt, jetzt komm nur schnell herein, heute habe ich was, das darf ich dir geben. In der Nacht sprang sie aus dem Schlaf heraus, ihr hatte geträumt, der Apfel war weg. Aber wie sie hinschaute, da lag er noch in seiner Schale, sie schlief gleich wieder ein.

Der Freund blieb lange aus. Sie ging vorsichtig um ihren Apfel herum, kein Hauch durfte ihn treffen, damit er nicht schneller verderbe. Du liebe Zeit, dachte sie, er wird richtig daherkommen, wenn es meinem Apfel schon schlecht geht.

Immer dringender wurde sie in eine törichte Sparsamkeit hineingetrieben. Als wieder einmal die Flasche leer war, hatte sie nicht einmal das Geld, um neuen Brennspiritus zu kaufen. Da gab es kein warmes Getränk mehr in den Leib, und an einem trüben Mittag aß sie einen rohen Suppenwürfel auf, der von früher noch dalag, wie er eingewickelt aus der Fabrik kam, und der Ekel machte sie ganz krank. Aber den Apfel rührte sie nicht an.

In der Nacht befiel den Mann, den sie kannte, ein Bedürfnis, mit ihr zusammen zu sein als mit einem Menschen, bei dem er sich gehen lassen konnte. Im grauenden Morgen warf er an ihr Fenster einen kleinen Stein und schreckte sie aus ihrem Schlaf auf. „Laß mich hinauf“, sagte er über die Straße hin, und als sie ihn unten stehen sah, war es für sie der große Moment. Er ging dann auf ihr Zimmer. Später legte er sich für einige Stunden auf ihr schmales Bett, sagte „ich bin müde.“

Sie stand selber auf, um ihn ungestört ruhen zu lassen, kleidete sich fröstelnd an. Sie stieß an einen Schuh, der da stand. Halbwach warf er sich herum, er verbat sich den Lärm. Gleich darauf versank er. Wie Adam sah er aus in seinem starken, unbekümmerten Schlaf. Sie schlug den Vorhang so über das Fenster, daß kein störendes Licht auf sein Bett fiel. Dabei knarrte der Boden, und sie befürchtete ihn zu wecken.

So blieb sie am Fenster stehn und rührte sich nicht. Wie ein Eindringling stand sie zaghaft in ihrem Eigentum. Sie zog sich auch keinen Stuhl herbei, sie befürchtete dabei ein kleines Geräusch.

Der helle Tag kam sehr stark hinter den Häusern herauf, bald schreckte da und dort ein Vogel auf und sang sich vollends in den Schlaf. Etwas später schrie schon eine ganze Schar vieltönig durcheinander. Immer wieder riß sie ihre Augen auf, weil sie ihr blind wurden vor Schlafbedürfnis, und daß sie sich hier mit Anstrengung des Leibes für ihn wach hielt, das war ihr gerade recht. Sie dachte, wie gut, daß mein Apfel noch schön ist.

Als er ausgeschlafen hatte, zog er sich gleich an und wollte ein Frühstück. „Bloß einen einfachen Tee“, sagte er, „daß man was Warmes in den Leib hat“, und er rechnete es sich hoch an. Tee wäre noch dagewesen, aber der Spiritus fehlte, und sie hatte für sich selbst nicht einmal ein Stück Brot.

Aber sie lachte mit einer tapferen Nachsicht über die eigenen kleinen Nöte. Sie stellte ihm die Schale mit dem einzigen Apfel hin. Noch freute sich sich daran, daß einem Leib, den sie liebte und der dampfend aus einem Bett stieg, die kühle in den Morgen duftende Frucht hingegeben werde. Erst vor seinem wartenden Blick erblaßte sie. Er wartete eine ganze Weile auf die Zutat, aber sie schloß keinen Kasten auf, ihm zu bereiten, was drinnen war, es lag ja nichts drinnen. Sie hielt die Hände noch so hin in der zagen Erwartung eines guten Wortes, das von ihm zu ihr kam, und eine langsame Röte stieg in ihr Gesicht, weil sie ganz arm war. Nie hätte sie ihm verraten, wie es um sie stand.

Da fing er an zu begreifen, daß er einen kalten Apfel in den nüchternen Magen hineinspeisen werde. Bei dieser Vorstellung fror er und merkte, daß das Fenster offen stand, und es war ihm zuwider. Er stand noch eine Weile herum, erzählte eine unklare Geschichte von einer Schwägerin, bei der es auch nichts gegeben hatte, und sagte es nicht direkt, daß der Apfel auf den leeren Magen für ihn eine Zumutung bedeute. Sie gab für ihr Verhalten keine Erklärung ab. Es war gar nicht so lange her, da hatte er eine Studentin mitgezogen ein ganzes Jahr, er hatte sie genährt und gekleidet, er hatte ihre Bude bezahlt. Das ging ins Auge, er kannte sich damit schon aus. Er würde es nie wiederholen.

Der Freund tat, was er sich vor einigen Minuten vorgenommen hatte, er ging und sagte noch, sie solle keinen Roman daraus machen. Nicht um die Welt hätte sie sich ihm erklären können, aber das Unglück hat ein Gesicht.

Etwas später ging das Mädchen durch dieselbe Tür. Sie hatte einen Apfel bei sich, den wollte sie einem Kind geben, damit wenigstens ein Mensch sich daran freue. Sie war schon so eine Person, die auf empfindsame Zusammenhänge ausging.