Back-alley abortionists

Bald wird – was zählen dabei zwei oder drei Jahre – es sechzig Jahre her sein: Das vom Gesetz als Urheber erzwungene Geschehen, das Annie Ernaux weit über drei Jahrzehnte später in „L’évènement“ schildert, und es vergehen noch einmal zwei Jahrzehnte, bis diese Erzählung einer Abtreibung in einer deutschsprachigen Übersetzung mit dem Titel „Das Ereignis“ zu lesen …

Annie Ernaux wählt für ihre Erzählung das Imperfekt. Jedoch, es kann nicht gesagt werden, daß sie deshalb zu einer raunenden Beschwörerin des Imperfekts wird. Den Lesenden von „Das Ereignis“ in diesem Jahr 2021 muß, in Anbetracht der Entwicklungen, das erzählte Geschehen als eines der Gegenwart vorkommen. Gar mehr noch, wenn die Entwicklungen derart weiter voranschreiten, als ein Geschehen der Zukunft

„der absolut unvorstellbaren Möglichkeit, dass Frauen sich eines Tages frei für eine Abtreibung würden entscheiden können.“

Es wird noch ein weiteres Kapitel bedürfen, um darauf einzugehen, auf diese Entwicklungen, die aus dem Buch von Annie Ernaux eines machen, das von der bevorstehenden Zukunft erzählt, in der es absolut unvorstellbar geworden sein wird, daß Menschen sich eines Tages frei für eine Abtreibung entscheiden werden können.

In diesem Kapitel soll bloß ein Wort, das auch im Buch von Annie Ernaux vorkommt, noch bedacht werden. Engelmacherin.

Daß dies eine liebliche Umschreibung ist, wem müßte das noch erzählt werden. Es wäre für Österreich sehr zutreffend, wäre Engelmacherin österreichischer Herkunft. Nur eines ist dabei gewiß, in Österreich noch nicht gehört zu haben, daß auch von Engelmachern gesprochen wird, wie etwa im Französischen : Le faiseur d‘anges

Le faiseur, Macher, Schöpfer, Gott – so kann der Engelmacher auch mit le dieu d’anges übersetzt und zurückübersetzt: Der Engelschöpfer.

La faiseuse d‘anges, von einer Engelmacherin berichtet Annie Ernaux, die sie, vom Gesetz gezwungen, aufsuchen muß, in ihrer Küche mit einem Resopaltisch, auf dem eine Emailschüssel, daneben eine Haarbürste und eine rote Sonde, die ihr Madame P.-R gleich einführen wird. „Werkstatt der Engelmacherin“ würde Annie Ernaux das Bild mit Resopaltisch, Emailschüssel, Sonde und Haarbürste vor einer Wand wohl selbst auch nennen, das sie nicht malte, aber erleben mußte, vom Gesetz dazu verurteilt.

La faiseuse, Macherin, Schöpferin, Göttin – so kann die Engelmacherin auch mit la dieu d’anges übersetzt und zurückübersetzt: Die Engelschöpferinengelmachende Gott in vielgeschlechtlicher Dreifaltigkeit.

An einem anderen Nachmittag betrat ich eine Kirche, Saint Patrice, in der Nähe des Boulevard de la Marne, um einem Priester zu beichten, dass ich abgetrieben hatte. Sofort bemerkte ich meinen Fehler. Ich fühlte mich erhaben, für ihn war ich eine Verbrecherin. Als ich wieder hinausging, wusste ich, dass die Zeit der Religion für mich vorbei war.

Für den Priester war Annie Ernaux vor bald 60 Jahren eine „Verbrecherin“. Bald sechzig Jahre später ist für Berufsgläubige und Hobbygläubige „Abtreibung Mord“. Es sind ihnen die Frauen nicht nur vage Verbrecherinnen, sondern Mörderinnen. Es ist nicht die einzige Kirche, die Annie Ernaux besucht, vor dem ersten Einführen der Sonde betritt sie eine in unmittelbarer Nähe der vom Gesetz errichteten Schöpfungswerkstatt.

Ich betrat eine Kirche, Saint-Charles-Borromée, blieb lange dort sitzen und bat darum, nicht leiden zu müssen.

Eine Kirche dieses Namens gibt es auch in Wien – die Friedhofskirche zum Heiligen Karl Borromäus. Hätte Annie Ernaux von Wien erzählen müssen, wo sie vor dem von dem gottgebenedeiten Gesetz erzwungenen Aufsuchen der in unmittelbarer Nähe zur Friedhofskirche gelegenen Werkstatt, die der Ort ihres Todes hätte werden können, eine Kirche betritt, sie hätte die Werkstatt wohl an einen anderen Ort verlegt, vielleicht auf den Karl-Borromäus-Platz mit seiner in der Nähe befindlichen Kirche, denn dies wäre, wenn es sich in der Wirklichkeit auch genauso zugetragen hätte, wohl zu literarisch gesucht erschienen.

Engelmacher, Engelmacherin, diese liebliche, diese verharmlosende, diese wirklichkeitsleugnende Bezeichnung ist ein Wasserwort, das im Abort runterzuspülen ist.

Eine vom Gesetz auf diese Weise erzwungene Abtreibung in solch einer Werkstatt, in der das Gesetz „Wasserkinder“ gebiert, soll fortan als das benannt werden, was sie tatsächlich ist: backstreet workshop of abortion. Gesetzlich errichtete Gassenwerkstätten in Hinterhöfen, in denen back-alley abortionists einer ihnen vom Gesetz beschafften Arbeit mit einer ihnen vom Gesetz angedrohten Strafe nachgehen.

Rechtswiss. Mit einer Gefängnis- oder Geldstrafe belegt wird 1. der Urheber von Abtreibungen oder Abtreibungsversuchen; 2. der Arzt, die Hebamme, der Apotheker oder jeder andere, der eine Abtreibung empfiehlt oder ermöglicht; 3. die Frau, die selbst abtreibt oder abtreiben lässt; unter Strafe steht 4. der Aufruf zur Abtreibung sowie das Werben für Verhütungsmittel. Gegen Schuldige kann zusätzlich ein Aufenthaltsverbot ausgesprochen werden, und Schuldige der Kategorie zwei können mit einem befristeten oder unbefristeten Berufsverbot belegt werden.
Nouveau Larousse Universel
Universallexikon, Ausgabe von 1948