Tiktok

Kaum ist die Wahl in Salzburg vorbei, geht es sofort los, mit der Diskussion, mit dem Diskurs, wie kommunistisch ist die KPÖ PLUS. Dieser Reflex wird in Österreich stets sofort ausgelöst, wenn die KPÖ in einer Wahl mehr als die ihr zugestandenen Stimmen bekommt, das war etwa im September 2021 in Graz so wie eben jetzt im April 2023 in Salzburg, und zugestanden wird der KPÖ in Österreich ein Stimmenanteil von knapp unter, recht besser noch, von weit unter einem Prozentpunkt, dann braucht dem lieb‘ Vaterland kein Muskel zucken.

Das jedoch eine Diskussion, gar einen Diskurs zu nennen, ist eine Herabwürdigung der Diskussion, des Diskurses.

Für Solcherlei, das sich als Diskussion, als Diskurs ausgibt, müßte ein neuer Begriff eingeführt werden. Zugegeben, für Solcherlei als Begriff Tiktok einzuführen, ist weder einfallsreich noch originell, doch, weil es um den Kommunismus geht, durchaus passend.

Tiktok

Kennzeichen von Tiktok seien u. v. a. m., so könnte ein Tiktok erklärender Wörterbucheintrag formuliert sein, die Verkennung der Wirklichkeit, das Vorbeireden an der Realität, das Aufwärmen längst vergangener Gegebenheiten, die Beschönigung des Eigenen, die Überzeichnung des Eigenen, das Festhalten an der Vergangenheit, das Ausschalten der Gegenwart, jenen die Vergangenheit vorzuhalten, die mit der Vergangenheit nichts zu tun haben, die in dieser Vergangenheit noch gar nicht lebten, eine Bedrohung an die Wand zu malen, die es im eigenen Land nicht gibt, die es im eigenen Land nicht einmal in dieser Vergangenheit gab, ein anderen Land vorzuschieben, um im eigenen Land Furcht und Angst zu verbreiten vor einem totalitären Regime, das es in einem anderen Land in der Vergangenheit gab und so weiter

Und das trifft, ausgelöst durch die Reflexfrage, wie kommunistisch denn die KPÖ sei, in Österreich zu, setzt Tiktok in Gang. So unwillkürlich Reflexe sind, so unwillkürlich sind dabei auch die Begriffe, die vermeintlich bewußt gewählt sind, es wird schon falsch gefragt, es wird falsch gefragt, wie kommunistisch sei die KPÖ, und dafür stets die Sowjetunion herbeigeholt, statt, wenn schon von der Sowjetunion tikttokt wird, richtig zu fragen, wie sowjetisch denn die KPÖ

Es will jedoch gar nicht ein neuer Begriff eingeführt werden, hieße das doch, Solcherlei ernst zu nehmen, Solcherlei auch noch zu würdigen, es will nur festgehalten werden, wie Solcherlei eine Berechtigung hatte, vor Jahrzehnten, als die Sowjetunion existierte, aber in der Gegenwart, nun in der Gegenwart, wenn jene, die Solcherlei jetzt, wieder einmal eben im April 2023, in Gang setzen, nicht in irgendwelchen Nischen, nicht am Rand der medialen Aufmerksamkeit, sondern prominent und omnipräsent, selbst in der Gegenwart angekommen wären, würden sie die Diskussion einfordern, würden sie auf den Diskurs breit pochen, wie hält es die Welt mit dem Kommunismus, wie halten es die demokratischen Länder mit dem Kommunismus, wie hält es das demokratische Österreich mit dem Kommunismus, und nicht, wie kommunistisch ist eine Partei, die sich kommunistische Partei nennt, und das wäre wohl auch ein Kennzeichen von Tiktok, nämlich die Einfalt des Fragens, in diesem Fall offenbart sich die Einfalt des Fragens dadurch, zu fragen, weil eine Partei sich eine kommunistische Partei nennt, zu fragen, auch wenn falsch gefragt, wie kommunistisch ist eine kommunistische …

Es wird also in Österreich nun, wieder einmal, eine Vergangenheitsangstwand als Schutzwall gegen den Kommunismus, während der Kommunismus in der demokratischen westlichen Welt, so auch in Österreich, willkommen …

China ist also erwacht.

Die Welt spaltet sich demnach in zwei Lager: auf der einen Seite der die Globalisierung beerbende Verband unter allseitiger amerikanischer Hegemonie, monetär wie militärisch, technologisch wie kulturell, auf der anderen Seite die „neuen Seidenstraßen“ — die Belt and Road Initiative –, die sich von der definitiven Gleichschaltung vo Xinjiang bis zum Kauf des Hafens von Piräus und einiger Prunkstücke deutscher Technologie, von der Maskendiplomatie in Algerien bis zur Einrichtung einer chinesischen Militärbasis in Dschibuti, von der Unterstützung von Aufständen bedrohter Regime (Syrien, Thailand, Myanmar) bis zu einer omnilateralen Politik der Beeinflußung, die auch Südamerika, Afrika und den Nahen Osten nicht unbeachtet lässt, erstrecken. Zwischen den beiden Lagern: Strategien des containment und der Provokation, der Abwerbung sowie alle möglichen Arten des Druckaufbaus, tausend kaum sichtbare Mikroschlachten und eine allmähliche Festlegung der Verbündeten — Land um Land, Partei um Partei, Unternehmen um Unternehmen. Deng Xiaoping empfahl, „die eigenen Fähigkeiten zu verbergen und den richtigen Moment abzuwarten“. Dieser Moment ist offenbar gekommen; er ist sogar schon weitgehend vorüber. Das lässt sich leicht an der ausdrücklichen Großspurigkeit der chinesischen politischen Agenda ablesen. Jiang Shigong, offizieller Interpret der „Xi-Jinping-Gedanken“, Kommentator und Verkünder des Werkes von Carl Schmitt in China und Theoretiker der Annexion Hongkongs, gibt sich nicht mit der Feststellung zufrieden, dass, ungeachtet der Parenthese der Westfälischen Ordnung, „die Weltordnung immer gemäß der Logik eines Reiches funktioniert hat“, oder damit, die Geschichte als die eines Kampfes zwischen maritemen und kontinentalen Reichen aufzufassen.

Er schließt sein Reich und Weltordnung (2020) folgendermaßen: „Wir leben in einer Zeit des Chaos, des Konflikts, der massiven Veränderung, in dem sich das Weltreich 1.0 im Niedergang befindet und dem Zusammenbruch nahe ist, während es uns noch nicht gelingt, uns das Weltreich 2.0 vorzustellen […] Die Zivilisation, die in das Lage sein wird, wirkliche Lösungen für die drei großen Probleme anzubieten, mit denen das Weltreich 1.0 konfrontiert ist, wird auch das Programm für das Weltreich 2.0 liefern. Als große Macht, die über ihre eigenen Grenzen hinausschauen muss, hat China an seine eigene Zukunft zu denken, denn die Bedeutung seiner Mission besteht nicht allein darin, seine traditionelle Kultur wiederzubeleben. China muss außerdem geduldig die Kapazitäten und Errungenschaften der gesamten Menschheit, insbesondere die der westlichen Zivilisation, in sich aufnehmen, um das Weltreich aufzubauen. Nur auf dieser Grundlage können wir den Wiederaufbau der chinesischen Zivilisation und den Wiederaufbau der Weltordnung als ein sich gegenseitig verstärkendes Ganzes ins Auge fassen.“ Dass er kein Blatt vor dem Mund nimmt, ist das Verdienst dieses Textes.

Sicher, wer sich ein bisschen mit chinesischen Genossinnen über die Realität des heutigen Chinas ausgetauscht hat, weiss, dass die Inszenierung eines pyramidalen Staates, der perfekt um eine Partei herum vereinheitlicht ist, deren Tentakeln sich von der Einwohnergemeinschaft bis zu ihrem höchsten beratenden Organ erstrecken, und in dem eine absolute Kontrolle der Kommunikation und ein generalisiertes technisches Überwachungssystem zusammen mit unerbittlicher Repression die Idee der Dissidenz selbst ausgelöscht haben, nicht mehr als ein Propagandaartikel ist.

Die Frage ist nicht, wann das Zepter der Welt wirksam in die Hände Chinas gelangt. Wichtig ist es vielmehr zu erkennen, dass die chinesische Gouvernementalität schon jetzt als Modell für die westlichen Formen der Machtausübung dient. Sie hat bereits begonnen. Nur unser Unwissen darüber, was die chinesische Gouvernementalität wirklich ausmacht, verdeckt diese Erkenntnis noch. Dabei ist es offensichtlich, dass alle Regierungen der Welt neidisch auf den Handlungsspielraum des chinesischen Regimes schielen. Nicht nur der nationale Verteidigungsrat, durch den Macron zu regieren beliebt, ist nichts als eine blasse Imitation des nationalen Verteidigungskomitees Xi Jinpings. Wen äfft man nach, wenn man gleichzeitig die staatliche Erfassung der Bevölkerung, die Kontrolle der sozialen Netzwerke und die Befugnisse der Polizei erweitert sowie die Berichterstattung über Demonstrationen, die in jedem Falls als Ansammlung Unverantwortlicher beschrieben werden, einzuschränken versucht?

Oder wenn man einen Kreuzzug gegen den „Separatismus“ anzettelt? Erinnern die regelmäßig über den einen oder anderen in Ungnade gefallenen politischen Clan verhängten Korruptionsurteile niemanden an etwas? Selbst die Weise, wie sich ein westlicher Bürokraft von nun an immer öfter als Kapitalist verdoppelt, imitiert bloß eine jahrtausendalte chinesische Tradition. Noch grundsätzlicher äußert sich die symbolische Hegemonie Chines darin, dass sich überall und in jedem Bereich eine Machtausübung verbreitet, die sich auf eine zentralisierte, undurchsichtige und scheinbar neutrale Verordnung von Normen stützt, anstatt auf die Ausdrücklichkeit der Gesetze. Dieses Reich der Normen und des Normalen drückt sich ethisch in der mittlerweile universellen Gewohnheit unserer Zeitgenossen aus, sich gegenseitig zu bewerten, anzuschwärzen, zu überwachen; eine Gewohnheit, die die Einführung einers zentralisierten Systems wie des Sesame Social Credit System überflüssig macht. Ganz offensichtlich chinesisch sind sowohl der Coronapass als auch die Bewegungseinschränkungen der schlechten Bürgerinnen, die Verbannung der Risikodividuen. Äußerst chinesisch ist die laufende Ersetzung des Rechtssubjekts durch das biologische Individuum, das produziert und konsumiert. Verteufelt chinesisch ist das Geheimnis, das sich, sei es bei Wirtschafts- oder bei Staatsgipfeln, immer weiter um die Ausübung realer Macht ausbreitet, während den Leuten eine wachsende und immer mehr von ihnen miterzeugte Transparenz aufgedrängt wird – die gleichzeitige Verbreitung von verbotenen Städten und Spitzeln. Die unsichtbare Strukturierung des Realen durch Algorithmen in Verbindung mit der Sichtbarmachung der geringsten alltäglichen Geste entstammt ebenso wie die dadurch erzeugte Selbstüberwachung der ältesten chinesischen Reichstheorie. Nicht nur das Durchpeitschen von 5G kommt aus China, sondern auch das Projekt der „ökologischen Hightech-Zivilisation“, das zu dessen Rechtfertigung dient, ebenso wie die moralisierende Rekrutierung der Bürger für diese Fiktion. Die Epidemie, die sich von industriellen Herzen dieses Landes ausgehend über die ganze Welt ausgebreitet hat, hat lediglich offengelegt, wie sehr die chinesische Gouvernementalität schon jetzt das universielle Paradigma bildet. Die totale Mobilisierung im Krieg gegen den „unsichtbaren Feind“, wie sie von Xi Jinping erklärt wurde, hat im Großteil der Weltführer ihrere pathetischen Bauchredner gefunden. Die verrückte Erfahrung des allgemeinen Lockdowns, welcher der Region Wuhan auferlegt wurde — und der selbst eine von der chinesischen Macht radikalisierte Version des Sicherheitsmanagements von Epidemien ist, das auf den amerikanischen Antiterrorismus der Ära Dick Cheneys zurückgeht –, hat der weltweiten Reaktion auf die Epidemie als Richtwert gedient. Es ist daraus ein ganzes System des organisierten Misstrauens aller gegenüber allen entstanden, dessen Symbol die Maske ist und das sich „spontan“ überall durchgesetzt hat, ein allgemeines Ethos der resignierten Unterwerfung unter die geringste extravagante Norm, die sich als bürgerliche Tugend unter dem Vorwand der „Solidarität“ präsentierte.

Junius Frey, Skizzen einer Doktrin für eine kommunistische Politik, Kosmotechnik und Kommunismus, Matthes & Seitz, Berlin, 2023.