Sonderlichkeiten

Es ist schon richtig, daß mit der kurzen Feststellung, ein schlecht gemachter Roman ist ein schlecht gemachter Roman, bereits alles gesagt ist, was zu „Keiner von euch“ zu sagen ist.

Wahr ist ebenso, es wäre zu „Keiner von euch“ nicht eine einzige Zeile zu schreiben, wäre „Keiner von euch“ aus irgendeiner Groschenromanfabrik.

Aber schon verbreiten Menschen, „Keiner von euch“ sei ein „historischer Roman“. Der Verlag und der Schriftsteller legen diese Einordnung doch nahe, wenngleich sie es zugleich zurückweisen:

„Angelehnt an die faszinierende Geschichte Angelo Solimans erzählt Felix Mitterer in seinem ersten Roman von Emanzipation und Würde, von Rassismus und Selbstbehauptung.“

„Dieses Buch ist ein Roman, keine Biographie. In diesem Roman verbindet der Autor im Sinne schriftstellerischer Freiheit historische Fakten mit literarischer Fiktion.“

Hätte also Felix Mitterer einen „Adelsroman“ für beispielsweise „Fürstenwelt“ geschrieben, hätte über seinen Roman je nicht geschrieben werden können, schlecht gemacht, ist schlecht gemacht, weil es gar nicht zur Kenntnis gelangt worden wäre, daß es überhaupt dieses Heftchen …

Hätte also Felix Mitterer nur einen Roman über Fürsten und ihre Triebe aber ohne Bezugnahme auf Angelo Soliman und seine Tochter geschrieben und ohne Hinweis darauf, „historische Fakten“ zu verwenden, nun, kein Mensch könnte sich je erdreisten, darüber eine Zeile zu schreiben, weder eine positive noch eine negative.

Dem ist aber nicht so.

Und daher soll in diesem Kapitel Felix Mitterer unter seinem amtlichen respektive, wie es so schön gesagt wird, wirklichen Namen auftreten, als Figur eines Schriftstellers im 21. Jahrhundert, der beinahe zweihundert Jahre nach dem Tod von Josephine Soliman einen Roman schreibt, der von einer schauerlichen Gegenwart erzählt, obgleich er vorgibt, über ein Geschehen vor über zweihundert Jahren zu berichten.

Ein Heftchen, reich an Sonderlichkeiten. Sonderlichkeiten, die im Heftchen geführt als „schriftstellerische Freiheit, literarische Fiktion“ … Vieles, im Grunde alles mutet an dieser „schriftstellerischen Freiheit“, an dieser „literarischen Fiktion“ sonderlich an. Es gibt Rätsel auf, was für eine „Freiheit“ muß diese wohl sein, die Felix Mitterer zweihundert Jahre später eine solche „Fiktion“ diktiert? Auch vor dem Hintergrund, wie eben erst zu erfahren war, daß eine Firma schändliche Namen ihrer Produkte gegen unverfängliche Namen tauschen will.

Ein paar von diesen Sonderlichkeiten in diesem Heftchen sollen doch exemplarisch angesprochen werden.

Die erste Seite des Heftchens zeigt eine Abbildung von Angelo Soliman. Und vermittelt bereits dadurch, doch mehr als eine „Fiktion“ zu sein. Felix Mitterer beginnt sein Heftchen mit

„Josephine Soliman. 16. April 1801. Heute bin ich 20 Jahre alt. Es ist Frühling in Messina.“

Ein Beginn mit einem konkreten Datum, als wäre es ein sogenannter Tatsachenroman. Sonderlich daran. 1801 ist das Todesjahr von Josephine Soliman. Sie wurde 29 Jahre alt. In der „Fiktion“ von Felix Mitterer ist also eine Tote eine wesentliche Figur in diesem Heftchen. Nach der uralten Weisheit der sogenannten weißen Menschen über sogenannte indianische Menschen, nur ein toter „Mischling“ sei ein guter „Mischling“. Und Mitterer nimmt ihr neun Lebensjahre weg. Auch ein „Mischling“ darf wohl nicht alt werden. Das Heftchen endet mit Josephine Soliman:

„Wir fahren durch die endlose Allee stadtauswärts, halten am Denkmal der Spinnerin am Kreuz. Drehen uns nach der Stadt um. Dort hat sich ein Großbrand ausgebreitet. Wien brennt. Ich wende wieder den Kopf, schaue, mich verabschiedend, zur Spinnerin, lasse die Leitseile schnalzen, das magere Pferd trabt los. Richtung Süden.“

Für die Tochter eines – Mitterer verwendet keine Anführungszeichen, daher auch hier keine – Negers und einer Weißen ist Österreich nicht der rechte Platz, soll auch ein „Mischling“ dort sein,

„wo ich nie war. In der Heimat meines Vaters. Die Angehörigen des Stammes der Wándala knien am roten Lehmboden und schauen ehrfüchtig zum großen Vulkan, der ausgebrochen ist und Feuer speit.“

Eine weitere Sonderlichkeit in der „schriftstellerischen Freiheit“ des Felix Mitterer:

„Aus dem Tagebuch von Clara Soliman … Sommer 1759 … Auf dem Schoß von Thurnstein saß ich, die achtjährige Clara … ein nordafrikanischer Sklavenhändler, ein Araber mit Turban … aber ich war einfach zu ungeduldig, da biss mich der Inhalt des Sacks durch den groben Stoff hindurch in die Hand. Ich schrie erschreckt auf: ‚Mamá! Es hat mich gebissen!‘ … Der Sklavenhändler gab dem Sack einen brutalen Fußtritt. Wie ein Tier schrie es darin auf … Sofort schoss ein kleiner schwarzer Junge in meinem Alter heraus und versuchte zu entkommen. Er war nackt und schmutzig … ‚So etwas Entzückendes!‘ … ‚Ich verstehe dich doch. Jedes Tierchen will nach Hause. Weißt du, sie haben mir mein Kätzchen weggenommen und verschenkt, weil es eine Chaiselongue zerkratzt hatte. Aber das Kätzchen war am nächsten Tag schon wieder da. Sie haben es mir wieder weggenommen, und diesmal kam es nicht mehr zurück. Sie haben es im Meer ersäuft, ganz bestimmt. Dasselbe würde dir passieren, kleiner Mohr. Es ist zu weit nach Afrika. Du würdest ertrinken wie mein Kätzchen.‘ … ‚So jetzt wird es aber Zeit, dass du einen Namen bekommst. Ich werde dich Angelo nennen … Aber einen Familiennamen brauchst du auch … Angelo Soliman‘ …“

Nach Mitterer ist also Angelo Soliman 1759 acht Jahre alt. Als Geburtsjahr vom historischen Angelo Soliman wird stets 1721 angenommen. Mitterer nimmt Angelo Soliman also rund dreißig Lebensjahre weg. Für Mitterer darf ein Neger wohl nicht alt werden. In seiner „Fiktion“ höchstens etwas über 41 Jahre. Mitterer läßt ihn ermorden in der Zeit, als bereits Franz Habsburg I und II herrschte, also nach dem Juli 1792 und wohl vor dem tatsächlichen Todesjahr 1796 von Angelo Soliman; die Todesursache ein Schlaganfall.

Mit den Namen in diesem Heftchen ist es gar sonderlich bestellt. Das Sonderlichste wohl in diesem Heftchen von Mitterer ist die Verwendung von wirklichen Namen und von erfundenen Namen für die Personen, die in diesem Heftchen vorkommen.

Die Zofe heißt bei Mitterer „Giulietta“, während sie tatsächlich Angelina hieß, und aus Zuneigung zu ihr wählte Soliman für sich den Vornamen Angelo. Für Mitterer darf ein Neger wohl nicht selbst seinen Namen wählen.

Nach dem Heftchen von Felix Mitterer müßte der „Kinderschänder“ Fürst Johann Georg Christian von Lobkowitz, österreichischer Militärgouverneur und Generalfeldmarschall, sein, an den nach den tatsächlichen geschichtlichen Begebenheiten der Minderjährige Angelo Soliman „verschenkt“ wurde. Aber Mitterer nennt nicht Lobkowitz. Bei Mitterer heißt der „Kinderschänder“: „Fürst Johann Christian Thurnstein war österreichischer Feldmarschall und Gouverneur“ … Lobkowitz starb 1753, als Angelo Soliman nach Mitterer etwa zwei Jahre alt war. Dachte Mitterer vielleicht beim „Kinderschänder“ an Fürst Joseph Wenzel von Liechtenstein“, zu dem nach den historischen Begebenheiten Angelo Soliman im Jahr 1753 wechselte? Fürst Liechtenstein entließ Angelo Soliman, weil dieser heimlich heiratete. Viele Gerüchte über die Gründe der Entlassung durch Liechtenstein gibt es, ein Gerücht, die „homosexuellen Neigungen“ des Fürsten Liechtenstein. Mitterer wärmt auch das auf, Angelo Soliman als Opfer von einem Pädophilen. Sonderlich daran die Zurückhaltung von Mitterer, dem „Kinderschänder“ einen erfundenen Namen zu geben, den „Kinderschänder“ also nicht Fürst Lobkowitz oder Fürst Liechtenstein zu nennen.

Ist doch sonst Mitterer in seiner „schriftstellerischen Freiheit“ gar nicht so zurückhaltend, wirkliche Namen zu verwenden. Etwa, exemplarisch genannt, den von Wolfgang und Constanze Mozart. Constanze Mozart läßt Mitterer in seinem Heftchen mit Angelo Soliman es im Stiegenhaus treiben, wo er sie von Mozart erwischen läßt. Viele kommen in diesem Heftchen mit ihren wirklichen Namen vor, beispielhaft etwa Joseph II … wirklich an ihnen bloß die Namen und die mittererische „Fiktion“ der Fortschreibung österreichischer Legenden —

Was ein Neger bei Mitterer auch nicht sein darf: ein Hausbesitzer. Der der historische Angelo Soliman auch war, dem zwar auch das passierte, was halt vielen Menschen nach wie vor passiert, sein Haus wurde irgendwann versteigert. Mitterer aber gesteht einem Neger nur eine Wohnung zu.

Sonderlich auch, daß im Heftchen von Mitterer aus dem Lokal „Zum steinernen Löwen“ das Bordell „Zum roten Hahn“ am Spittelberg wird, aus dem, wie berichtet wird, Joseph II wegen der Prostituierten „Sonnenfels-Waberl“, die von Mitterer „Wally“ genannt wird, hinausgeworfen … Den Rausschmiß erzählt Mitterer nicht, dafür Sonderliches über die Welt eines Bordells, wie auch anders möglich, in einem Heftchen voller Absonderlichkeiten, geschuldet einer „schriftstellerischen Freiheit“, einer „literarischen Fiktion“, daß zu fragen ist, welche Wörter versteht Mitterer nicht: Schriftstellerisch? Freiheit? Literarisch? Fiktion? Er wird wohl alle Wörter verstehen, aber nicht, wie diese zu vereinen sind.

Es gab in Wien ein Wirtshaus mit dem Namen „Zum roten Hahn“. Aber … Unmittelbar vor der ersten Erwähnung vom „Roten Hahn“ in diesem Heftchen läßt Mitterer Professor Hoffmann erzählen:

„Toni schaute währenddessen auf den Leichnam. ‚Wer is’n das, Herr Professor?‘ – ‚Ein Komponist. Sehr begabt.‘ – ‚Selbstmord? Oder is er von den Nachbarn erschlagen worden, wegen der lauten Musik?‘ – ‚Selbstmord, Toni. Gift. Keiner wollte seine Musik spielen, keiner sie hören.‘ …“

An welchen Komponisten hat Mitterer dabei gedacht? An Hans Rott, der im Wirtshaus „Zum roten Hahn“ verkehrte? Kaum. Rott vergiftete sich aber nicht, er beging keinen Selbstmord. Rott wurde aber erst 1858 geboren. Bei diesem mittererischen Mischmasch, vielleicht doch …

Tatsächlich wurde die Musik von Rott lange, sehr lange nicht gespielt, wie hier in einem Kapitel gelesen werden kann.

Welchen Komponisten Mitterer auch gemeint haben mag, ist im Grunde belanglos, was auffällt, ein sonderlicher Zugang und Umgang mit künstlerischen Menschen, oder einfach und kurz: platt, äußerst platt, das zeigt auch und nicht nur die mittererische Beschreibung von Wolfgang Amadeus Mozart …

Sonderlichkeiten über Sonderlichkeiten. Eine letzte soll noch erwähnt werden. Eine Rolle spielt in diesem Heftchen auch „Josip“, ein „Bettler“, dem „die Beine fehlen“. Auf der vorletzten Seite des Heftchens erzählt Josephine Soliman, als sie Wien, als sie Österreich, wie es Mitterer will, verläßt:

„Als David und ich über den Josephsplatz gehen, kommen Josip und seine Bettlerarmee aus ihren Verstecken, schauen stumm und ehrfürchtig zum Kuppelsaal: Ein Feuerschein, wie aus einem Vulkan entsprungen, erhellt das große Mittelfenster. Hinter dem Mutter und Vater sich eben zu den Vorfahren begeben. Plötzlich spüre ich eine unbändige Kraft in mir aufsteigen. Ich recke die Arme hoch und stoße einen unglaublichen Schrei. Explosionsartig zerbirst das große Mittelfenster und die Flammen schießen heraus. Josip und die anderen Bettler stimmen nun im meinen Schrei vielstimmig ein, recken ihre Waffen empor.“

Unglaublich diese „schriftstellerische Freiheit, diese „literarische Fiktion“ … „Bettlerarmee, Waffen“ …

Das also kommt heraus, wenn ein guter Mensch einen Roman schreibt, der ein Heftchen ist, wie ersonnen von einer Stammtischrunde in einer einzigen Nacht der …