„Daß dieses totalitäre Regime, daß der Nationalsozialismus ja nicht mit einem Weltkrieg begonnen hat und nicht mit irgendwelchen Vernichtungslagern. Sondern er hat damit begonnen, daß man Menschen systematisch ausgegrenzt hat.“
„Vergessen wir nicht, daß am Anfang der nationalsozialistischen Herrschaft nicht Auschwitz, sondern die Ausgrenzung von Menschen, die als störend, als schädlich betrachtet wurden, stand.“
Zwei Aussagen gleichen Inhalts. Die eine von Herbert Kickl, die andere von André Heller, dem Herbert Kickl recht genau zuhörte, vor vier Jahren, von ihm lernte, für kurz zum Innenminister angelobt, um es beinahe vier Jahre später, nicht mehr in der ersten Reihe sitzend, selbst vorzutragen.
Der Herr Lehrer wird mit seinem Schüler wohl nicht zufrieden sein, wofür dieser, der Schüler, das vom Herrn Lehrer Gelehrte verwendet, das Gelehrte vom Herrn Lehrer dem Schüler abgesegnetes Mittel für seinen Zweck.
Das Gelehrte des Herrn Lehrer ist nichts Gelehrtes. Er trug es nicht einer Schule vor, sondern in der Hofburg, am 12. März 2018, in einem Festakt zum Gedenken, und das in Gedenkveranstaltungen tragend Gesprochene kann mit Sekt gleich Brötchen in das Vergessen hinuntergespült werden, es kann aber auch als irgendwann gegen den Gedenksinn einsetzbares Mittel aufbewahrt werden, es kann aber auch, in der ersten Reihe sitzend, in den Schlaf …
Zwei Aussagen gleichen Inhalts. Und doch der eine kein Lehrer, der andere kein Schüler. Es eint sie, einfach wie kurz gesagt, die schlichte Geschichtsbetrachtung, so grundlegend verschieden ihre Zwecke dafür auch sind.
Es heißt stets bedeutungsschwer, es müsse aus der Geschichte gelernt werden. Die Geschichte lehrt nichts. Gelernt kann werden, aus Gedenkveranstaltungen, daß Gedenken als Mittel für alles …
In der ersten Reihe saß im März ’18 auch ein Mann, wohl aus Betroffenheit, mit gesenktem Kopf, in der Hofburg, der Schöpfer des inzwischen zum geflügelten Freispruch Gewordenen: „So sind wir nicht“.
Aber wie dann?
Ssso!
Eine nicht mehr zu stellende Frage. Längst von Ernst Jandl mit seinem „Spruch mit kurzem o“ end-gültig beantwortet. Aber doch auch wieder, eine weiter zu stellende Frage.
Hätte er, der Mann in der ersten Reihe, den Kopf gehoben, hätte er sich im Saal umgesehen, dann hätte er vielleicht zufrieden eine weitere Antwort gegeben:
„So sind wir!“
„Wie wir. Hier im Hofsaal. Der Vortragende, so sind wir“ – mit dem Vortragenden, dem zu wünschen gewesen wäre, daß er dem für kurz angelobten Innenminister ein wirklicher Lehrer und der für kurz angelobte Innenminister ihm ein wirklicher Schüler, ist doch dieser Vortragende Verkörperung des „So sind wir!“ wie kein Zweiter und keine Dritte, wofür auch diese seine Rede exemplarisches Beweisstück, wohl wert, daß sein Redemanuskript einen ersten Platz im Haus der Geschichte Österreich …
Was wäre das für eine lohnende Aufgabe der wissenschaftlichen Aufarbeitung seiner Rede. Bereits seine Begrüßungsformel der abgestuften Hochachtung wäre schon denkwürdiger Anlaß,
„Verehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! Herr Vizekanzler …“
Satz für Satz durchzugehen, einer Analyse zu unterziehen, das in ihnen Auffällige herauszuarbeiten, von dem „Mein“ als dem ersten Wort seiner Rede an bis zum letzten …
„Mein wahrscheinlich an diesem Tag das letzte Mal in seinem Leben optimistischer Vater, ein Süßwarengroßindustrieller und engagierter Austrofaschist sagte am Abend des 11. März 1938 zu seinem Freund, dem ehemaligen Dollfuß-Vizekanzler und Heimwehrführer, Emil Fey beruhigend: Du, es wird sicher nicht so heiß gegessen werden, wie gekocht. Und dann Stunden später nach einem brutalen Verhör durch die Gestapo erschießt Fey seine Frau, seinen Sohn, und dann sich selbst. Und am Morgen des 12. März nach dem völlig ungehinderten Anschluß genannten Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in die Erste Republik läutete es gegen neun Uhr an der Tür der Wohnung meiner Eltern, am Wiener Brahmsplatz 1, Sturm […]
Dem Glücklichen, dem die Historie ganz Familiengeschichte, schlägt, heißt es, keine Stunde. Was anderen Tage sind, sind ihm Stunden. Das Verhör von Emil Fey am 15. März 1938, Mord und Selbstmord am 16. März 1938. Emil Fey im Regime von Dollfuß, aber auch von Schuschnigg – eine liebgewordene Geschichtsbetrachtung in Österreich, die ständestaatliche Diktatur auf Dollfuß zu reduzieren, und Schuschnigg zum Mann eines freien …
Was Stunden zuvor passierte, also vier Jahre davor, berichtet André Heller nicht, das spielt in seiner Geschichte keine Rolle, das hat nur etwas mit Fey allein und seinen Kontakten zu den nationalsozialistischen Männern des Putsches im Juli 1934 und nicht mit der hellerischen Familie zu tun … Was wohl Fey für eine Karriere gemacht hätte, wäre der Putsch gelungen, unter einem zweiten nationalsozialösterreichischem Regime, allerdings unter einem Mann aus der Steiermark als Führer?
Emil Fey ist nicht wie Dollfuß ermordet worden, aber zum Mörder und Selbstmörder … der Freund, wie Dollfuß so ein Opfer der …
„Die Haushälterin öffnete und sah sich drei jüngeren Männern in Polizeiuniformen mit Hakenkreuzbinden […] Mit beachtlichem Mut antwortete das Fräulein Králíček: Bitte schön, die Herrschaften empfangen nur nach Voranmeldung. […] Dann stießen sie das Mädchen […] In diesem Augenblick erschien mein Vater […] hinter ihm angstvoll meine vierundzwanzigjährige Mama […] So zumindest erinnert es meine Mutter, die heute in ihrem 104. Lebensjahr zuhause die Übertragung dieser Veranstaltung im ORF […] Während der Wartezeit zwangen die drei Männer meine völlig eingeschüchterte Mutter […] Als mein Vater zurückkam, trug er über dem dreiteiligen Anzug einen Kamelhaarmantel, den er mit allen Orden, die ihm als Offizier im Ersten Weltkrieg verliehen wurden, dekoriert hat. Was soll die Frechheit? Schrie einer der Schergen [..] Und zwangen ihn [Stephan Heller] eine voll Stunde […] auf den Gehsteigen gemalte Schuschnigg-Parolen, Aufrufe zur Volksabstimmung für ein freies Österreich […]
Der tapfere Offizier des Habsburgers, angstlos, uneingeschüchtert, kein Bub, ganz Mann, tritt vor, dahinter die angstvolle, völlig eingeschüchterte Mutter, das Mädchen und Fräulein, das aber schon den Beruf einer erwachsenen Frau, den der Haushälterin …
„Es muß der Oktober 1970 gewesen sein, als mein Freund und Mentor Helmut Qualtinger anrief und sagte: Hast Du Lust heute Abend um 20 Uhr im Restaurant Falstaff bei der Volksoper den Carl Zuckmayer […] Natürlich interessiert es mich den Autor solcher Theaterereignisse […]
Ich erschien also pünktlich und sah […] pfeiferauchenden wie eine menschgewordene schöne Tiroler Holzschnitzerei wirkenden Zuckmayer […] und nahm den Faden des Gesprächs, das ich durch mein Erscheinen unterbrochen […]
Und jetzt begann Zuckmayer leidenschaftlich das zu schildern, was er auch in seinen Erinnerungen „Als wär’s ein Stück von mir“ […]
„Meine angebetete, schöne und weltoffene Südtiroler Großmutter hat mir einmal erzählt: Weißt Du, Bub, in der taumelnden Zwischenkriegszeit war mein Haupttrost das, was ich als unverlierbare Heimat empfand, die Musik von Mozart und von Schubert […] war ich wenigstens auf Zeit gerettet und meine Augen und Ohren hatten eine Zuflucht vor dem Groben und Lieblosen […]
So muß auch etwa Adolf Hitler in der unverlierbaren Heimat seine Zuflucht gehabt haben, bei Mozart, überhaupt die nationalsozialistischen Menschen in der unverlierbaren Heimat ihre Zuflucht gefunden haben, bei Mozart, bei Schubert, überallhin, wohin sie im Auftrag der Vorsehung gerufen waren, Anständigkeit, die auch für den Vortragenden ein hohes Gut ist, zu bringen, dort überall ist ihnen Mozart, Schubert, aber auch die Lyrik, die Literatur insgesamt ewiglich Zuflucht im Groben und Lieblosen …

„[…] die Morallosigkeit und das Kriminelle austoben. Aus der Staatsverbrecherbande der Nazis ragten überproportional viele Österreicher. Ich nenne stellvertretend nur […] und einige besonders vertierte Kommandanten von Konzentrations- und Vernichtungslagern […]“
Es war nicht morallos. Es war die total akzeptierte und extensiv ausgelebte nationalsozialistisch genormte Moral in ihrer Gesamtheit der Grundsätze und Werte, die das zwischenmenschliche Verhalten der Gesellschaft zur Zeit der totalitären nationalsozialistischen Diktatur regulierten. Es ist eine Denunzation, es ist eine Diffamierung der Tiere, das Personal der Vertierung zu bezichtigen. Denn. Tieren fiele es weder ein, ihr Leben nach einer solchen Moral zu regeln, weder Vernichtungslager noch Butterwarenfabriken zu errichten. In diesem Verbrechensfall war das Tier Mensch nicht vertiert, sondern es war als nationalsozialistisches Personal ein besonders vermenschtes Personal. Zur Beleidigung der Tiere, insbesondere des Hundes, hat Vladimir Jankélévitch Unmißverständliches geschrieben, an den hier nicht bloß deswegen erinnert wird, sondern auch, weil sich besonders am Umgang mit ihm die heute in Österreich genormte Moral …
Aber auch einen Eintrag im „Arbeitstagebuch zur Entstehung des Romans eines Schicksallosen“ von Irme Kertész zu dieser hellerischen Aussage zu zitieren, zeigt die Differenz …
„Es ist immer weniger, was den Menschen an seine Menschlichkeit erinnert. Und das Schlimme ist, wir beginnen nicht den Tieren zu gleichen, sondern unseren unvollkommen konstruierten, zu Exzess und Fernsteuerung neigenden Automaten.“
„1991, 46 Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft fand durch Bundeskanzler Franz Vranitzky das erste österreichische Schuldeingeständnis statt […] Es brauchte ungeheuren Todesmut und Prinzipientreue, während des Terrors der Nazi-Zeit in den Widerstand zu gehen, oder sich auch nur in bestimmten Situationen anständig, charaktervoll zu benehmen [..]
46 Jahre nach dem Porajmos nennt der ehemalige österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky in seiner Schuldeingeständnisrede die ermordeten Menschen Zigeuner.

Fast ein Jahr nach der hellerischen Familienrede, der auch der nun nicht mehr in der ersten Reihe sitzende Bildungsminister konzentriert zuhörte, wird durch das Bundesministerium für Bildung ein Schulbuch für österreichische Schulen für „geeignet erklärt“, mit dem zu lehren ist, daß es für diese Menschen keine andere Bezeichnung gibt, als eben „Zigeuner“, und es bildungskorrekt vollkommen in Ordnung ist, sie einfach wie kurz „Zigeuner“ zu nennen, und weil Sparsamkeit ein hohes Gut in diesem Staat ist, sind Anführungszeichen ebenfalls einzusparen — —
„Den jungen Zuhörern möchte ich weitergeben, was mir Bruno Kreisky bei unserem ersten Gespräch 1970 eindringlich sagte: Für Dich und alle aus Deiner Generation in Österreich, Ihr, die Ihr die Gnade hatten, in Frieden und Freiheit und in Wohlstand aufzuwachsen, darf schon aus Dankbarkeit für Euer Glück die Feigheit keine Option sein. Und seid gefälligst ein Lebenlang solidarisch mit den Schwachen und jenen, die Unrecht ausgesetzt sind.“
Auf wen in Österreich könnte mehr gehört werden, als eben auf Bruno Kreisky, der nicht feige war, gleich in seine erste Regierung, das war 1970, so viele von jenen Schwachen zu holen, die dem Unrecht ausgesetzt, der nicht feige war, gegen die das Wort zu führen, die meinten, das Recht auf ihrer Seite zu haben. Bruno Kreisky hat allen etwas zu weitergeben gehabt, das Erbe Bruno Kreiskys anzutreten, ist heute noch vielen in Österreich eine Ehre, die ihnen nicht zur Schande gereicht.
„[…] solidarisch […] Es ist in der Politik und im Leben überhaupt keine Schande, wenn man sich einmal irrt, nur, man sollte Irrtürmern besseren Wissens nicht treu bleiben.“
Stunden später, also vier Jahre später, wird der Vortragende vielleicht gedacht haben, als er dem Mann zuhört, der als einziger vor ihm in der ersten Reihe sitzt, diesmal von ihm in die erste Reihe gesetzt, in seinem Studioarbeitszimmer,
„Ich versuche etwas zurückzugeben, was ich als angemessen empfinde. […] Schwieriger für den Menschen ist, den Irrtum einzugestehen, insbesondere öffentlich. […] Jawohl, ich habe mich geirrt […] aber ich habe es erkannt, ich werde es besser […]
„[…] zum Schluß noch eine Merkwürdigkeit aus meinem Leben zu erzählen. Ich dachte jahrzehntelang, ich wäre etwas besseres als andere, klüger, begabter, amüsanter, zum Hochmut berechtigt. Ich war arrogant, selbstverliebt, ständig andere bewertet und […] in der Londoner […] ich erkannte […]

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