Meine Damen und Herren, das wird jetzt vielleicht ein wenig ungewohnt für eine Festspieleröffnungsrede, aber Sie werden mir verzeihen, wenn ich diese Gelegenheit nutze.
Ungewohnt ist daran nichts. Nicht einmal die Vergeßlichkeit. Die gehört in diesem Land dazu. Eröffnungsreden werden dafür genutzt. Wie seit langem gewußt wird, spätestens seit der Landwirtschaftsmesseeröffnungsrede eines Bundespräsidenten, mit dem gefragt werden kann, was war die Leistung von Staatsoberhaupt als Bundespräsident?
„Die Sümpfe“ wurden seit damals nicht trockengelegt, „die sauren Wiesen“ wurden seit damals noch saurer. Das ist, einfach wie kurz gesagt, die Antwort.
*
Zweiundvierzig Jahre später glaubt also ein Bundespräsident, diesmal in einem Juli und nicht in einem August, eine „ungewohnte“ Rede zu halten, während sie doch nur eine gewöhnliche, die gewöhnlichste —
Er sagt: „Wenn wir uns nicht in die eigene Tasche lügen wollen, dann müssen wir etwas zur Kenntnis nehmen, nämlich […]“
Und dann beginnt der Kandidat, der um die Zulassung zur Wahl für das Amt der Bundespräsidentin wirbt, mit der Aufzählung, mit der er alles einem „Diktator“ in die Schuhe schiebt, geradeso, als wäre vor dem 24. Februar 2022 in Österreich alles zum Besten bestellt gewesen, als wäre bis zum 24. Februar 2022 Österreich mehr als eine „Insel der Seligen“ gewesen – das Paradies schlechthin.
Er redet davon, „daß wir in einer Gesellschaft leben wollen, in der jeder Mensch gleich viel wert ist“. So sehr ist diese seine österreichische Gesellschaft beseelt davon, daß jeder Mensch gleich viel wert ist, daß der Wert der Menschen in Österreich von der Staatsspitze höchstselbst penibel mit dem Zirkel —
Er redet von „dramatisch ansteigenden Preisen“, er redet von den „Hunderttausenden Menschen in diesem Land“, die „Angst haben, die am Rande der Verzweiflung sind“, er redet von „alleinstehenden Müttern, alleinerziehenden Mütter, Mindestpensionisten“ … einfach wie kurz gesagt, er redet von der Armut.
Von der Armut, die es in Österreich bis zum 24. Februar 2022 nicht gegeben hat, weil vor allem die Regierung, die für ihn auch ein Hort stabiler Verhältnisse war, alles dagegen unternahm, was nur zu unternehmen war, und dabei besonders an die Kinder dachte, Gesetze verabschiedete, die nun dieser „Diktator“ zu Fall brachte.
Gerade für junge Menschen war bis zum 24. Februar 2022 nur das Beste gut genug, in diesem, wie er es nennt, „wunderschönen“ …
Kein schöneres Land auf der Welt bis zum 24. Februar 2022, gerade auch für Familien —
Einfach wie kurz: wahrlich ein Paradies, in dessen Wörterbuch es bis zum 24. Februar 2022 nicht die Vokabeln, nicht die Phrasen gab: „schwer leiden“, in akuter Armutsgefahr“ … sondern ausschließlich Honigundmilchworte wie „Friede, Wohlstand, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit“ …
Ein Paradies, in dem bis zum 24. Februar 2022 gewußt wurde, was gut, was „gar nicht“ gut, wem dafür die Stange …
Er erklärt, warum dieser „Diktator einen Krieg begonnen hat“, er zählt auf, was alles der „Diktator“ verachtet und nicht erträgt, und darum hat der „Diktator“, der bis zum 24. Februar 2022 nur Friede und nichts als Friede war, einen „Krieg begonnen“.
Er redet von der „unerträglichen Abhängigkeit“. Und auch unerträglich sei es, so redet er zur Eröffnung der Landwirtschaftsmesse auf dem Bodensee, „sich zum unterwürfigen Verbündeten eines Diktators zu machen, zu all dem Unrecht zu schweigen, wir“ seien nicht „Vasallen“ — Ein wahrhaftig reitender Bote gegen das Schweigen, gegen das Unrecht, und wie weit er dafür schon geritten ist, bis Teheran, USA —
Er, so redet er selbstkritisch, „selbst habe mich auch täuschen lassen“, aber, das müsse er betonen, „vergangene Regierungen in halb Europa“ hätten sich ebenfalls … einfach wie kurz ein Mann, der frank und frei in die Reihe der Getäuschten sich stellt —
„Politik und“, das betont er besonders, „Wirtschaft haben Fehler gemacht“. Als ob das, was die Wirtschaft macht, Fehler sein könnten, wenn die Wirtschaft macht, was der Wirtschaft „Grundelemente“ sind —
Das ist die Last dieses Landes Österreich, voll Vertrauen und Liebe zu sein, und deshalb stets Opfer derer zu werden, die täuschen, heute und auch wie beispielsweise vor siebenundsiebzig Jahren, stets alles Vertrauen und alle Liebe fremden und eigenen „Diktatoren“ entgegenzubringen, sie stets glaubensselig „anders einzuschätzen“, weil eben ihr alles Tun nie Zweifel aufkommen ließen, es könnte Täuschung sein, bis dann, eines Tages, das ruinierte Land die Wahrheit über sie — Aber wer könnte Liebenden und Vertrauenden gram sein, vor allem dann, wenn sie ihren Schmerz, getäuscht worden zu sein, selbst einbekennen —
Staatsoberhaupt, ein Bundespräsident, der so offen und so ehrlich spricht, der weiß, daß er den Menschen nichts geben kann, die „jetzt“ und seit je immer „arbeiten“ und dennoch „nicht mehr wissen, wie sie heizen oder essen sollen“, das wäre der Bundespräsident für 1945 gewesen, in seiner Demut, einzugestehen, nichts zu haben, das er den Menschen geben kann, nicht wie jene damals …
… ein Segen, in diesem „Jetzt“ zwei Männer an der Staatsspitze zu wissen, die wissen was zu tun ist, ein geeichter 45er Bundespräsident, der weiß, wer an der Regierung gehalten werden muß, schließlich weiß dieser, er war dabei, was in harten Wintern zu tun ist —
Nicht nur er weiß, was in harten Wintern zu tun ist, sondern auch alle die mit ihm sind —
*
Und deshalb kann eines bloß noch geben, nur einen Schluß.
Es ist kein Zufall, daß die Eröffnung […] schon zum festen Programmpunkt meiner Amtsvorgänger im Amt des Bundespräsidenten gehört hat. Auch für mich ist sie ein Auftakt der Herbstarbeit, bei dem die Erfüllung einer staatspolitischen Pflicht mit dem Erlebnis persönlicher Freude zusammenfällt. (…)
[…] ist heuer zudem in einer guten Situation: Sie wird nicht unmittelbar von jenen bösen Schatten beeinflußt, die gegenwärtig jene sogenannten Wirtschaftspraktiken werfen, die am Beispiel einzelner Auftragserteilungen für das Allgemeine Krankenhaus in unserer Bundeshauptstadt zutage getreten sind und für die das harte Wort „Korruption“ nicht vorschnell gewählt ist. Trotzdem ist für Schadenfreude darüber, was woanders passieren kann, ebenso wenig Platz wie auch für eine in manchen Mitbürgern aufkommende Angst, daß der demokratische Rechtsstaat vielleicht doch nicht in der Lage sei, der Korruption Herr zu werden. Denn ehrlich müssen wir gestehen, das, womit sich das zuständige Gericht und der Parlamentarische Untersuchungsausschuß in diesen Wochen beschäftigt, ist nicht die erste Korruption in unserer Zweiten Republik. Und dort und da wird im Zusammenhang mit dieser bösen Erfahrung auch wieder ein Ruf nach einem „starken Mann“ vernehmbar.
Meine sehr geschätzten Mitbürger! Viele von uns haben es an sich selbst erfahren, wohin das Regiment eines „starken Mannes“, führt. Was wir brauchen ist nicht ein starker Mann. Der Rechtsstaat ist stark genug, auch mit diesen verabscheuungswürdigen Mißbräuchen fertig zu werden. Was wir aber brauchen, sind charakterlich starke Demokraten mit einem hohen Berufsethos, und zwar in jedem Bereich, im wirtschaftlichen ebenso wie im politischen. Wir brauchen diese charakterlich starken Demokraten überall, oben und unten, in den Funktionen mit großer und in den Funktionen mit kleiner Verantwortung, und auch im privaten, im persönlichen Leben.
Jeder von uns, wo immer er als freier und verantwortlicher Mensch steht, muß seine Pflicht so erfüllen, daß er damit nicht nur vor den Gesetzen – dies scheint mir eine selbstverständliche Voraussetzung -, sondern auch vor seinem Gewissen bestehen kann. Wir haben in einer für den moralischen Zustand unseres Volkes gefährlichen Weise uns daran gewöhnt, manchen Delikten das Wort „Kavalier“ voranzusetzen und haben damit vergessen gemacht, daß sie trotzdem Delikte bleiben. Dies hat von der Wurzel her den Blick für die Grenze dessen, was zu tun ehrenhaft ist und was nicht ehrenhaft ist, getrübt. Und zwar ganz gleichgültig, ob es sich um eine Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit auf den Straßen oder um das Fahren unter Alkoholeinfluß handelt, wodurch Menschen an ihrem Körper, ja an ihrem Leben einen nicht wieder gutzumachenden Schaden erleiden können oder um ein Steuer-, Devisen- oder Zolldelikt, oder schließlich um das Verlangen oder Anbieten einer Bestechung für eine Vorzugsbehandlung, wobei – wir wissen es alle – es für diese Bestechung sehr höflich anmutende Formen gibt; die Überweisung eines Betrages auf ein ausländisches Konto ist ja erst die letzte, die verabscheuungswürdigste Variante in der Stufenleiter der vielen kleinen Versuche, etwas zu erreichen oder früher zu erreichen, was anderen verwehrt ist.
All das, was jetzt die täglichen Nachrichten erfüllt, und bis zur vollständigen und absoluten Klarstellung und Offenlegung aller Sachverhalte auch erfüllen muß, kann zu einer heilsamen Kur für unsere Republik und für unser Volk werden, wenn wir bereit sind, uns nicht nur daran zu ergötzen, daß eine Anzahl von Menschen eingesperrt oder an den Pranger gestellt werden, sondern wenn wir auch für uns persönlich die Art unserer Pflichterfüllung und die Gewohnheiten unseres täglichen Lebens vom Gesichtspunkt der Ehrlichkeit, der Aufrichtigkeit, der Treue gegen die übernommenen Pflichten, kurz gesagt vom Gesichtspunkt der Moral überdenken.
Vielleicht erwarten manche von Ihnen von mir mehr konkrete verurteilende Aussagen. Ich glaube an die Qualität der österreichischen Rechtsprechung und ich glaube auch an das ehrliche Bemühen des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, die Wahrheit zu finden. Ich weiß, wie schwer diese Aufgabe ist; sie zu präjudizieren, steht mir nicht zu.
Vielleicht mag das, was ich gesagt habe, manchen auch altmodisch klingen, aber meine Lebenserfahrung geht eben dahin, daß Sumpfblüten unauffällig nur in einem Sumpfe wachsen können.
Beginnen wir also überall mit dem Trockenlegen der Sümpfe und nehmen wir […] auch gleich die sauren Wiesen dazu! Mir scheint dies die beste Voraussetzung dafür, daß schon Versuche zu ähnlichem Tun, wie es sich gegenwärtig zeigt, in Hinkunft am trockenen Boden der Ehrlichkeit, der Unbestechlichkeit, am Hindernis einer allgemeinen Grundeinstellung des ganzen Volkes scheitern. Wir müssen, wollen wir für die Zukunft bauen, unsere Demokratie im politischen ebenso wie im wirtschaftlichen Handeln glaubwürdig machen, dann wird auch die Zukunft unserer Demokratie als Denk- und Lebensform gehören.

Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.