„Für die Schattenseiten seiner Schützlinge ist Liszt nicht blind, er kennt ihre Faulheit und Verschmitztheit, und versichert wörtlich, ‚daß sie allein die Juden im Betrügen überträfen‘.“
„Wenn Borrow nicht Nachahmer findet, werden die Zigeuner in alle Zukunft bleiben, was sie sind. ‚Solange es Gesetze für Zigeuner gibt,‘ sagt der Verfasser, ’solange werden die Zigeuner außerhalb jedes Gesetzes bleiben‘.“
„Es ist eine feine Bemerkung, daß solchen Naturmenschen die Genüsse jeder Kunst unverständlich bleiben müssen, die Musik ausgenommen, welche durch die sinnliche Empfindung unmittelbar (ohne Vermittlung des Denkens) das Gefühl ergreift.“
Immer noch geht es hoch um dieses K. L.-Denkmal. Es werden Artikel um Artikel geschrieben. Für-und-Wider-Artikel. Für das Stehenlassen. Wider das Abreißen. Für das Umgestalten. Gegen das Umgestalten. Und alle Artikel eint die Konzentrierung auf den Antisemitismus des K. L. Genauso, als wäre der Antisemitismus des K. L. tatsächlich das Wesentliche. Die Debatte um das Denkmal ist aber tatsächlich eine Parade der kollektiven Verdrängung in Österreich.
Das Wesentliche ist aber die kollektive Verdrängung. Es tut not, das Verdrängte einmal so einfach wie kurz zusammenzufassen.
„Die Begriffe des Empfangs, der Schwelle, des Übergangs sind sicherlich unzureichend, wenn es darum geht, einen Internationalismus zu begründen, der aus dem Inneren eines Landes die schändliche Vorherrschaft des Nationalismus transzendiert. Die Identität des anderen, so wie Derrida sie denkt, setzt diesem Begriff keine Grenze. Egal ob […] Mensch […], die bloße Andersheit macht das Gesetz des Empfangs zur Pflicht. Doch das ist eine sehr gefährliche Sichtweise. Wie soll man diesen absoluten Imperativ hinnehmen, wenn der Andere ein Konquistador ist, ein bewaffneter Kolonist, der plündern will, oder ein Zionist, der palästinensisches Land an sich reißt?“
Armin Wolf schien gut vorbereitet zu sein. Und dennoch ungenau in seinen Vorhaltungen. Ein altes Leiden des Journalismus in diesem Land. Entweder unvorbereitet oder schlecht vorbereitet oder zumindest zu wenig genau. Wodurch den Befragten es leicht gemacht wird, sich herausreden zu können, schlimmer noch, sie sogar die sie Befragenden korrigieren zu können, vor laufender Kamera. Es ist ein altes Leiden, seit Jahrzehnten bereits, es hat wohl nicht mit Jörg Haider erst angefangen, aber gerade bei ihm war es immer wieder auffällig, wie leicht es ihm gemacht wurde, sich herauszureden. Und so können sich bis heute herauf weiter so viele, kurz gesagt, so leicht entwinden.
Armin Wolf schien sich gut vorbereitet zu haben. Aber doch nicht genau genug. Als er dem Präsidenten des thinkenden Tanks die ÖVP-Nähe seines präsidierten Alois-Mock-Instituts vorhielt, ihm vorhielt, wer aus der ÖVP im Vorstand des Alois-Mock-Instituts sitzt, machte Armin Wolf es Wolfgang Sobotka sehr leicht, ihn zu berichtigen. Wie aus der wörtlichen Wiedergabe zu entnehmen ist:
Armin Wolf: Die Frage ist, warum das Novomatic macht. Und warum Novomatic letztlich in irgendeiner Form Sie mit 100.000 in ein paar Jahren unterstützt. Jetzt haben Sie zigfach gesagt in den letzten Wochen, das Alois-Mock-Institut sei kein parteinaher Verein. Jetzt bei allem Respekt. Ich habe mir heute sehr ausführlich Ihre Homepage angeschaut. Präsident sind Sie, ÖVP. Das ist unbestreitbar. Der Obmann ist ein ehemaliger Landtagskandidat und ein ehemaliger Bürochef von Ihnen. Weiters sitzen im Vorstand die Landesgeschäftsführerin des ÖAAB Niederösterreich, die Finanzreferentin des ÖAAB Niederrösterreich, eine Referentin der ÖVP Niederösterreich, ein ÖVP-Wien-Kandidat, der ehemalige Stadtparteiobmann von Krems und der niederösterreichische Landesamtsdirektor. Und das ist nicht parteinah?
Wolfgang Sobotka: Also der Landesamtsdirektor sitzt nicht drinnen, aber …
Armin Wolf: Auf der Homepage steht er schon, der Herr Obernosterer …
Wolfgang Sobotka: Er ist nicht Landesamtsdirektor, sondern er ist der Direktor des ÖVP-Klubs bzw. — Entschuldigung, der Direktor des Landtagspräsidiums. Landesamtsdirektor ist wer anderer.
Diese Ungenauigkeit von Armin Wolf kann aber diesmal als eine positive verbucht werden. Denn diese gab durch die zweite erkenntnisreiche Fehlleistung von Wolfgang Sobotka in diesem Interview einen tiefen Einblick, als er sagte, Herr Obernosterer sei der „Direktor des ÖVP-Klubs“. Und das wird wohl auch das wahre Verständnis sein, daß Herr Obernosterer der „Direktor des ÖVP-Klubs“ ist, während er formell, wie Wolfgang Sobotka sich dann doch verbesserte, Direktor des Landtagspräsidiums ist. Bei dieser Verbesserung allerdings mußte Wolfgang Sobotka sich allerdings sehr anstrengen, darauf zu kommen, was Herr Obernosterer denn noch sein könnte, unter größter Anstrengung brachte es Wolfgang Sobotka dann doch heraus, daß Herr Obernosterer der …
Wenn bedacht wird, welche Aufgaben das Landtagsdirektion mit seinem Direktor hat, kann ein jeder Mensch sich vorstellen, wie Herr Obernosterer, zu dem Wolfgang Sobotka sofort „Direktor des ÖVP-Klubs“ einfällt, diese Aufgaben wahrnimmt.
Arbeit für den Landtag und Service für die Bürgerinnen und Bürger
Zur Unterstützung bei den parlamentarischen Aufgaben und zur Besorgung der Verwaltungsangelegenheiten im Bereich der Organe der Gesetzgebung des Landes ist die Landtagsdirektion berufen. Damit ist sie die ständige Geschäftsstelle des Landtages, seiner Ausschüsse, des dreiköpfigen Landtagspräsidiums und der Präsidalkonferenz, in denen neben dem Landtagspräsidiums auch der Landtagsdirektor/die Landtagsdirektorin, die Klubobleute sowie ihre Klubdirektoren/Klubdirektorinnen vertreten sind. Geleitet wird die Landtagsdirektion von Landtagsdirektor Mag. Thomas Obernosterer.
Die Landtagsdirektion hat insbesondere die Bereitstellung der Beratungsunterlagen zu veranlassen, Verhandlungsgegenstände entgegen zu nehmen und die Zustellung an alle Abgeordenten zu bewirken, die Sitzungsberichte zu erstellen, die beschlossenen Gegenstände an die richtigen Stellen wie die Bundes- oder Landesregierung weiterzuleiten und die Einrichtungen des Landtages wie den Landtagssitzungssaal oder die Ausschusslokale zu betreuen und zu verwalten.
Außerdem ist die Direktion eine Servicestelle für die Bevölkerung in allen Fragen, die den Ablauf der Landtagssitzungen bzw. der Landtagsarbeit betreffen. Für inhaltliche Anliegen zu Verhandlungsgegenständen sind jedoch die Klubs bzw. die Mitglieder der im Landtag vertretenen Wahlparteien zuständig.
„Die Simpsons widmen ihre Halloween-Folge den US-Wahlen 2020: Sie nennen den US-Bürgern darin 50 Gründe (u.a. ‚Kinder in Käfige stecken‘), warum sie Präsident Donald Trump nicht wiederwählen sollten.“
Das wurde in einer österreichischen Umsonst heute am 15. Oktober ’20 …
Vorgestern, 13. Oktober ’20, ein Interview im österreichischen Rundfunk mit dem ersten Nationalratspräsidenten des österreichischen Parlaments und dem Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses tief in der Nacht.
Die Fragen stellt Armin Wolf.
Tiefe Nacht, I
Von dem Nationalratspräsidenten und dem Präsidenten des Alois-Mock-Instituts ist zu erfahren, gefragt nach den wissenschaftlichen Leistungen des Instituts, das von ihm präsidierte Alois-Mock-Institut habe gar schon zwei
„zwei vorwissenschaftliche Arbeiten“ …
… der vom österreichischen ersten Nationalratspräsidenten präsidierte „Think tank“ hat also die erste Stufe zur Matura erfolgreich erklommen …
Tiefe Nacht, II
Den Vorsitz des Untersuchungsausschusses möchte der Präsident des für die Matura büffelnden „Think tanks“ nicht abgeben, sondern dieses „Amt auch zu Ende verführen“.
„Im Sinne der Verfassung möchte ich das Amt auch zu Ende verführen – zu führen. Denn, wenn jeden Tag beim Untersuchungsausschuß eine Inszenierung stattfindet, wenn […]“
„Es ist doch alles absurd. Ich bin auf die Verfassung vereidigt. Was wollen Sie?
Das erinnert unweigerlich daran, wie sich ein Mann vor sehr langer Zeit in einer Bezirksgerichtsverhandlung verteidigte. Wessen er angeklagt war, ist nicht mehr erinnerlich. Aber was er der Richterin zu seiner Verteidigung entgegnete, bleibt unvergessen:
Des is doch voll absurd. I kenn‘ di Gesetze. Was woll’n Se von mir?
Trauet den Weißen nicht, ihr Bewohner des Ufers! In den Zeiten unsrer Väter landeten die Weißen auf dieser Insel. Man sagte zu ihnen: da ist das Land, eure Frauen mögen es bauen; seid gerecht, seid gut, und werdet unsere Brüder.
Die Weißen versprachen, und dennoch warfen sie Schanzen auf. Eine drohende Festung erhob sich; der Donner ward in eherne Schlünde gesperrt; ihre Priester wollten uns einen Gott geben, den wir nicht kennen; sie sprachen endlich von Gehorsam und Sklaverei. Eher der Tod! Lang und schrecklich war das Gemetzel; aber trotz den Donnern, die ausströmten, die ganze Heere zermalmten, wurden sie alle vernichtet. Trauet den Weißen nicht!
Neue, stärkere und zahlreichere Tyrannen haben wir ihre Fahne am Ufer pflanzen gesehn. Der Himmel hat für uns gefochten. Regengüsse, Ungewitter und vergiftete Winde sandt‘ er über sie, sie sind nicht mehr, und wir leben und leben frei. Trauet den Weißen nicht, ihr Bewohner des Ufers.
Mit diesem Lied beginnt das Buch „Traut den Weißen nicht“ von Alain Badiou.
Mit einem Gedicht läßt Alain Badiou sein Buch auch enden, beinahe.
Wir, die wir keinen festen Wohnsitz haben wir, die wir unser Zuhause überall aufschlagen, wo wir sind wir, die wir unsere Heimatstädte verlassen haben wir, die wir von Ort zu Ort herumziehen wir, die wir ein Leben auf Wanderschaft führen
Wir, die wir aus der gelben Erde stammen wir, die wir, um zu leben die gelbe Erde verraten haben wir, die wir in der Stadt kämpfen unseren Schweiß und unsere Jugend Tropfen um Tropfen opfern oft als Fremde ausgeschlossen
Wir, die wir uns nach Osten und Westen zerstreuen wir, die wir in der Stadt leben, aber die man noch „Bauern“ nennt wir, die nach Hause zurückkehren, finden, dass uns nichts mehr vertraut ist wir, die wir zwei Dinge zugleich machen können da wir in der Mitte festsitzen wir, die wir verlassen sind und die also inmitten des Frühjahrs im ersten Mondmonat so schnell wie möglich einer nach dem anderen in den Süden aufbrechen
Und wer sind wir genau? Wer genau sind wir?
Wir, Arbeiter, wir, die wir durch alle Jahreszeiten hindurch arbeiten wir, die wir Zugvögeln ähneln, die alles verloren haben
„Kleiner weißer Schmetterling, Tränen fließen“ Im Süden bricht jemand die Tür eines Mietzimmers auf. Guter Gott! Sie kommen, um die Befristete Aufenthaltsgenehmigung zu kontrollieren.
Im Anschluß daran schreibt Alain Badiou.
Sie sehen, wie mit einer Art hartnäckiger Nüchternheit die Vermischung von zwei grundlegenden Fragen dichterisch verarbeitet wird, die überall auf der Welt mit den Bewegungen der nomadischen Proletarier verbunden sind: die Frage der Reise und die Frage der Papiere. Für den nomadischen Proletarier stellt sich immer und überall die Papierfrage, die ihn nicht loslässt, das, was Jacques Rancière zu Recht den „Papierkram der Armen“ nennt: Passvisum, unterschiedliche Zertifikate, Behördenvorladungen, befristete Aufenthaltsgenehmigungen, Abschiebungsbeschlüsse, Bestätigungen des Alters, des Geschlechts, der Herkunft, des Bildungsniveaus, der Sprachkenntnisse und so weiter.
Sie wissen es längst schon. Es kann empfohlen werden, es zu lesen, das gesamte Buch zu lesen. Nehmen Sie es auf in ihre Sammlung des Wissens, wenn Sie darüber sprechen wollen, dessen „schlechtes Wort“ hier nicht geschrieben wird.
Die nationalistische und faschistoide Thematik des Fremden als Bedrohung, für die Identität zeigt sich rege wie in den 1930er-Jahren. Man nicht davor zurück, die Situation als die einer Invasion unserer zivilisierten Länder durch Horden darzustellen, durch Horden von […], zum Beispiel durch Horden von „Roma“. Die moslemische Religion wird als eine barbarische Gefahr angesehen. Man schließt die Arbeiterheime, man unterstellt die Jugend der Vorstadtviertel einer polizeilichen Kontrolle, man macht Delogierungen zur Norm, die Erlangung eines Aufenthaltstitels wird zu einem Kreuzweg, man lässt Tausende der sogenannten […] im Mittelmeer ertrinken, man beschließt neue ruchlose Gesetze, die es auch noch auf die Bekleidungs- und Ernährungsgewohnheiten der Betroffenen abgesehen haben.
[D]en Vorwand liefert, handelt es sich um eine Art Verdauung des Elends derer, die aufgebrochen sind wegen der vermeintlichen „Werte“ – Gastfreundlichkeit und Demokratie – der Länder, in die sie gehen.
Der Ausgangspunkt, den jeder kennt, ohne dass man die Konsequenzen daraus zieht, lässt sich so formulieren: Im kapitalistischen Universum, das das Schicksal der Menschheit bestimmt, ist der Maßstab die Produktion von was auch immer die ganze Erde, die ganze Welt.
Das Buch mit seinen gerade einmal fünfzig Seiten endet mit einem Aufruf:
Die nomadischen Proletarier fordern uns durch die Stimme der Dichtung dazu auf, diese Charta zu unterzeichnen. Ihr universalistischer Schwung ist überzeugend und sie könnte noch lange in uns nachwirken. Vor allem in uns, denn diese Deklaration endet, indem sie die absolute Notwendigkeit, die unbedingte Notwendigkeit darlegt, das Ertrinken, die massenhaften Festnahmen, die Verbote, den Papierkram der Armen sowie jegliche Ausgrenzung aufgrund von Herkunft oder Status und die erbärmlichen und schändlichen Versuche, sie zu begründen, nicht länger hinzunehmen. Hier die fünf letzten Artikel dieser feierlichen Dichter-Erklärung:
9. Die Dichter erklären, dass eine nationale oder supranationale Verfassung, die keine Vorkehrungen für die Aufnahme von Menschen bereithält, die eintreffen, durchreisen und an unsere Hilfe appellieren, ebenfalls gegen den Grundsatz der Sicherheit für alle verstößt.
10. Die Dichter klären, dass dem Flüchtenden, Asylsuchenden, […] in Not, dem freiwillig Ausgereisten oder poetisch Vertriebenen, der an einem Ort der Welt auftaucht, nicht nur ein Gesicht und ein Herz, sondern alle Gesichter und alle Herzen zugewandt sein sollten. Denn er kommt aus den Tiefen der Menschheitsgeschichte zu uns, er ist das absolute Symbol für die menschliche Würde.
11. Die Dichter erklären, dass auf unserem Planeten kein Mensch jemals mehr ein fremdes Land betreten soll – alle Länder sollen ihm Heimat werden – und dass er auch nicht am Rand der Gesellschaft bleiben muss, denn jeder wird ihn willkommen heißen. Weil diese Gemeinschaft die Diversität auf der Welt schätzt, wird sie es ihm selbst überlassen, welches kulturelle Gepäck und Handwerkszeuge er für sich wählt.
12. Die Dichter erklären, dass unabhängig von den Umständen, unter denen ein Kind auf die Welt kommt, es seiner Kindheit nicht beraubt werden darf. Die Kindheit ist Blut von unserem Blut, sie ist das Salz der Erde, der Boden, auf dem wir alle stehen. Daher ist ein Kind überall zu Hause wie der Windhauch, das reinigende Gewitter, es hat alle Rechte und ist Staatsbürger von vorneherein.
13. Die Dichter erklären, dass das gesamte Mittelmeer zu einem Denkmal für die Menschen wird. die in ihm den Tod fanden, dass sich über seine Ufer ein Torbogen spannt, offen für den Wind und die kleinsten Lichter, dass auf ihm für alle sichtbar das Wort WILLKOMMEN prangt, in allen Sprachen, in allen Liedern, und dass dieses Wort für die Ethik des Zusammenlebens auf der Welt steht.
Sie werden die Bücher in ihren Einfamilienhäusern mit gepflegtem Gärtlein lesen, am Pool, rundherum geschützt durch eine blickdichte Hecke. Favorisierte Pflanze für eine solche Hecke ist die Thuja occidentalis, also der abendländische Lebensbaum, auch genannt die gewöhnliche Thuja …
Die blickdichte Hecke als Sichtschutz, um die Lager der Vergangenheit und Gegenwart rund um die Einfamilienhäuser nicht zu sehen, während auf der Liege liegend Bücher über Lager …
Pool, Ort der gepflegten Diskriminierung …
„Lieber alter Lobe. Was hast Du nicht alles unternommen, um uns davon zu überzeugen, dass die Gemeinschaft uns erwartete und uns nicht diskriminieren würde.“
Und Louis Calaferte wird vielleicht auch nie daran gedacht haben, daß noch Jahrzehnte später derart über ihn falsch geschrieben wird.
„Louis Calaferte arbeitete selbst als Rundfunkjournalist und Dramatiker. Sein größter Erfolg zu Lebzeiten war ausgerechnet ein Skandal: das pornografische Werk Septentrion (1963).“
„D’une sauvagerie du verbe aussi, à comprendre comme scène primitive où l’amour de la littérature s’exprime avec age. ‚Septentrion‘ (1963), son livre culte, en fera les frais par une censure de vingt ans, l’accusation de pornographie masquant le grand livre politique et social dont il s’agit (Calaferte réitéra quelques années plus tard sous la forme d’un essai avec ‚Droit de cité‘).“
„Er erkannte unseren wirklichen Wert, auf einen Blick. Er wusste, mit wem er es zu tun hatte, und schenkte uns sein Vertrauen. Er setzte durch, dass die polizeiliche Überwachung aus der Schule entfernt wurde.“
Wenn die Menschen, vor allem Kinder, in ihrem Leben das Geschilderte täglich auszuhalten haben, jede Nacht zu ertragen haben, ihre Weltwirklichkeit zu verkraften haben, dann ist das Lesen von solch Geschildertem und vor allem das Sprechen über solch Geschildertes eine …
Es muß aber das Geschilderte, das nicht auszuhalten ist, das nicht zu ertragen ist, das nicht zu verkraften ist, nicht nacherzählt werden, wie es in Besprechungen dieses Buch passierte. In solchen Besprechungen geben die Menschen, die solche Besprechungen schreiben, mehr über sich preis, als über das besprochene Buch selbst, durch ihre Auswahl, was sie wert befinden, nachzuerzählen. Das Wesentliche dabei verschweigen, die Stellen im Buch, die Wege aufzeigen, wie gegen dieses Elend vorgegangen werden kann, wie Menschen, diesem Elend entrinnen können, das absolut nicht erwähnenswert finden, wohl deshalb, weil sie, ohne das sich selbst eingestehen zu können, meinen, diese Menschen haben dort zu bleiben, wo sie sind, da sie, wie beispielhaft in einer Buchbesprechung es zu lesen ist, „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“ sind. Der Rezensent, es ist ein Mann, der Rezensent wagt das, so fein ist seine Meinung von sich selbst, nicht in eigenen Worten zu schreiben, sondern maskiert es mit einem Zitat, läßt Karl Marx für sich marschieren.
Und wie gerade dieser Rezensent das Unwesentlichste in seiner Buchbesprechung hervorhebt, dafür darf das Beispiel des Schuldirektors Lobe herangezogen werden.
„Der halbwüchsige Louis trifft bei seinem Schuldirektor, einem kriegsversehrten Lebemann mit Vorliebe für Kneipenschlägereien, instinktiv auf Verständnis. Es ist dies die einzige wirkliche Liebesgeschichte in einem Buch, das man künftig in einem Atemzug mit Célines Tod auf Kredit oder Jean Genets Miracle de la Rose wird nennen müssen.“
Eine Liebesgeschichte, nein – eine Freundschaft, ja … eine Freundschaft zwischen Calaferte und Lobe, von allem getragen, was eine Freundschaft kennzeichnet, auszeichnet.
Das Verständnis, das Lobe den jungen Menschen in der Schule entgegenbringt, ist kein instinktives Verständnis. Er weiß, was zu tun ist, und Lobe handelt. Für die jungen Menschen. Und die jungen Menschen erkennen sofort, was ihnen bislang fehlte.
„Lobe war genau der Pädagoge, der uns gefehlt hatte. Er erkannte unseren wirklichen Wert, auf einen Blick. Er wusste, mit wem er es zu tun hatte, und schenkte uns sein Vertrauen. Er setzte durch, dass die polizeiliche Überwachung aus der Schule entfernt wurde. Vor seiner Ankunft wurde unser Kommen und Gehen von zwei Wachleuten mit Argusaugen kontrolliert. Lobe verpflichtete sich, die Überwachung selbst zu übernehmen. Damit hatte er bei uns einen dicken Stein im Brett. Wir waren ihm sofort dankbar dafür. Mit dem würden wir auskommen können. Er stand auf unserer Seite, dieser Einarmige mit dem geriffelten Monokel, in dem sich die Lichter verfingen.“
„Als wir von der Schule abgingen, waren wir halbwegs annehmbare Jungs, die es, gestützt auf ihren Willen, mit dem Leben aufnehmen konnten, ohne systematisch zu Vorbestraften zu werden. Lobe hatte getan, was er konnte, und hätten wir nicht ihn gehabt, um uns ein wenig Verstand beizubringen, frage ich mich ernsthaft, was wohl insgesamt aus uns geworden wäre.“
„In einer Wohnung, die in Büchern versank. Vor dieser Flut von Bänden ist mir offenbar geworden, was ein Buch, was das Lesen sein sollte. Er war es, der mir das erste Buch lieh, das kein Schulbuch war: Widerlegung der Bibel.“
Vielleicht ist auch Neid dabei, daß der Buchbesprecher Lobe in seiner Besprechung auf Instinkte und Kneipenschlägereien reduziert, die Beziehung zwischen Lobe und Calaferte zur einzigen wirklichen Liebesgeschichte verkitscht. Weil der Buchbesprecher in seiner Jugend keine Pädagogin hatte, keinen Pädagogen wie Lobe, der ihm offenbarte, was ein Buch, was das Lesen …
Es gibt Wege heraus, auch aus dem Elend, es gibt Veränderungen, Verbesserungen. Davon erzählt dieses Buch ebenfalls. Von der Wichtigkeit der Pädagogik. Davon aber berichtet der Buchbesprecher nichts. Das verschweigt der Buchbesprecher. Geradeso, als müsste es in Lagern auf ewig so bleiben, als dürfte es für Menschen in Lagern kein Entkommen, kein Entrinnen geben. Für sie keine Aussicht auf ein gutes Leben.
Von einem Buchbesprecher, der in seinem ersten Absatz bereits Karl Marx bemüht, könnte anderes erwartet werden, als das wohlige Nacherzählen von Grausamkeiten, als das Verkitschen, als das Mißverstehen, als das Miesverstehen …
Traurig, daß der Buchbesprecher nicht weiß, in seinem hohen Alter noch nicht weiß, was eine Liebesgeschichtewirklich …
Und wie so oft auch diesmal, das Glück, von solchen Buchbesprechungen erst später, durch Zufall, lange nach der Lektüre der miesbesprochenen Bücher erfahren zu haben.
Karl Marx, also ein Mensch des 19. Jahrhunderts hätte das Buch bereits leichthin verstanden, als ein Buch, das Möglichkeiten von Veränderungen, von Verbesserungen konkret aufzeigt, hin zu einem guten Leben. Ein gutes Leben, das der Buchbesprecher den Menschen in derartigen Lagern nicht zugesteht, weil sie für ihn, auch wenn er dafür Worte eines anderen mißbraucht, Abfall, Auswurf, Abhub sind, die es nicht verdienen, aus dem Elend herauszukommen, deshalb von ihm verschwiegen werden muß, daß es auch für sie Perspektiven gibt, nicht nur, aber auch mit starker Unterstützung durch Pädagogik. Durch eine Pädagogik aber, die nicht eine der „zärtlichen Sprache der Fäuste“ ist.
Calaferte selbst ist dafür der herausragendste Beispielgeber, mit seinem Glück, im richtigen Moment einen Pädagogen wie Lobe an seiner Seite gehabt zu haben. Die pädagogische Unterstützung darf aber kein Glück sein, sonst bleibt es bei Einzelfällen, die es schaffen, dem Elend zu entrinnen. Sie, die pädagogische Unterstützung, muß strukturell und breitest verankert sein.
Es gibt in dem Buch tatsächlich eine „wirkliche Liebesgeschichte“. Aber Calaferte ist keine Pilcher, und es muß Nachsicht mit dem Buchbesprecher geübt werden, diese wirkliche Liebesgeschichte nicht erlesen zu haben.
„Der letzte Satz dieses Buches, ein Satz der Liebe, ist für ihn geschrieben und für eine Frau, über die ich nicht gesprochen haben werde. Sie allein wird es wissen. Sie und ich. Und ich allein habe sie geliebt. Nicht wahr, G…“
Dieser Satz ist geschrieben für die geliebte Frau und für Schborn. Schborn ist für den Buchbesprecher ein „schöner Name“. Calaferte versteht nicht Liebesgeschichten wie Danella etwa zu schreiben, damit der Buchbesprecher eine solche auch sofort als eine erkennen kann, aber er, Calaferte, versteht es, von Liebe zu schreiben, auch von der Liebe in solchen Lagern, von der Liebe im Elend.
„Trotz seines gesunden Menschenverstandes, seiner Sicht der Dinge, seiner Schlauheit und seiner Vorliebe für das Abstrakte fehlte es Schborn an wirklicher Logik. Er war ein intuitiver Mensch. Ein Dichter. Einer, der die Welt zusammensetzt und auseinandernimmt, um sie von neuem und besser zusammenzusetzen. Später entdeckte ich in der Stadt, als wir zusammen wie eh und je ein entsetzlich unbequemes und heruntergekommenes Zimmer bewohnten, was mein Kamerad war. Ein erstaunlicher Kerl. Ein Herz voll von Mut. Ein Herz voll von Liebe. Dieser unbefriedigten Liebe, um die sich niemand in der Zone scherte. Hinter seinem grausamen Auftreten erwies sich Schborn als über die Maßen rein, er strebte nach dem Leben und der Liebe, die er nicht kannte. Der letzte Satz dieses Buches, ein Satz der Liebe, ist für ihn geschrieben und für eine Frau …“
Der Buchbesprecher soll auch ein Schriftsteller sein. Seine Buchbesprechungen sind Empfehlung genug, je kein Buch von ihm aufzuschlagen.
„Es begann am Arsch der Welt.“ Zitiert der Buchbesprecher den ersten Satz des Buches von Calaferte gleich zu Beginn seiner Besprechung.
Es soll mit dem letzten Satz des Buches der Abgesang auf einen Buchbesprecher das Kapitel geschlossen werden.
„Selbst meine Gespenster weigern sich, mir zu folgen, und in der Luft schwingt nur eine unmenschliche Musik zur Begleitung der Tränen, während ich für einen toten Kameraden und ein Mädchen, das ich liebe, einen wunderbaren Gesang der Liebe anstimmen möchte …“
Es gibt Bücher, von deren Inhalten nicht gesprochen werden will, auch nicht gesprochen werden kann. Weil die in diesen Büchern geschilderte Welt schon als nur gelesene Welt eine unerträgliche, eine nicht aushaltbare, eine nicht zu verkraftende Welt ist.
Wie unerträglich, wie unaushaltbar und eine nicht zu verkraftende Welt muß diese Welt für die Menschen und vor allem für die Kinder erst sein, die in diesen geschilderten Lagern tatsächlich Tag für Tag, Nacht für Nacht tatsächlich zu leben haben, ihnen diese geschilderte Blechhüttenwelt täglich ihre wirkliche Welt ist, ein Leben lang ihre einzige Weltwirklichkeit bleibt.
„Requiem für die Schuldlosen“ von Louis Calaferte ist so ein Buch, dessen Inhalt unerträglich, nicht aushaltbar, nicht zu verkraften ist.
Es versagt, von diesem Buch sprechen zu können.
Freilich, es könnte ein Kniff angewendet werden, um doch über dieses Buch sprechen zu können, es könnte ausgewichen werden, indem über die literarischen Qualitäten dieses Buches gesprochen wird. Und es ist von höchster literarischer Qualität, mit einem üblichen Wort: Weltliteratur. Aber sein Inhalt diktiert die Verweigerung, dieses Buch literarischen Kriterien zu unterwerfen.
Um es aber nicht zu verschweigen, dieses Buch doch ansprechen zu können, fern von Lyon, hier in Österreich etwa, oder besonders hier in Österreich, ist dieses Buch doch zu gütig, hilft das Buch selbst, nicht dem Schweigen verfallen zu müssen.
Mit einem Mann, von dem in diesem Buch erzählt wird. Es ist ein Mann, dessen Geschichte im Buch wenige Zeilen ausmacht.
„Die Tatsache, dass ein Individuum wie Lubitsch uns seine Blindheit einreden konnte, obwohl er genauso klar und deutlich sah wie jeder von uns, beeindruckte weder Schborn noch Debrer noch Lubresco, die doch nur Kinder waren. Wir dachten ganz aufrichtig, dass der Österreicher blind war, und zum Spaß führten wir ihn oft in die Irre, ohne seinen Trick zu durchschauen. Das dünne Kerlchen ließ es sich gefallen, es konnte seiner eigenen Phantasie nicht entrinnen.
Lubitsch war dennoch ein Sonderfall. Er war irgendwann bei uns gelandet und rührte sich nicht mehr weg. Er kam an einem Sommerabend, vor ihm ging ein weiß gekalkter Stock. Seine trüben grauen Augen standen offen, weit offen. Feld nahm ihn einige Monate lang bei sich auf und gab ihm zu essen, doch dann bezog er eine Blechhütte beim Brachland. Und wenn irgendeiner daran dachte, brachten wir ihm Essensreste. Ob das nun unmöglich erscheint oder nicht, Lubitsch, lebte fünf Jahre in seinem Verschlag, allein, auf einem Hocker sitzend oder auf dem Stroh liegend, und trat nur unter der Bedingung auf die Straße, dass ein Junge ihn führte.
Dass er normal war, stellten wir an dem Tag fest, an dem seine Bude Feuer fing und er ohne Hilfe hinausrannte. Als er sich durchschaut sah, antwortete er nicht auf die Fragen. Er behauptete, die Angst vor der Gefahr habe ihm das Augenlicht zurückgegeben. Und obwohl keiner daran glauben wollte, blieb er dabei.
Lubitsch war ein komischer Kauz und neigte ganz einfach dazu, sich zu kasteien. Ohne das Stigma irgendeines Leidens konnte er nicht leben. Das ging so weit, dass er sich eines Morgens, da er nicht mehr von seiner aufgeflogenen Lüge profitieren konnte, sich mit einem Gewehr aus nächster Nähe die rechte Hand wegschoss. Nachdem wir ihn blind gesehen hatten, gewöhnten wir uns daran, ihn einen hässlichen violetten Stumpf herumschleppen zu sehen. Das änderte nicht viel an seiner Existenz, außer, dass er nicht mehr von der Gemeinschaft ernährt wurde. Wenig später bedeutete uns Feltin, er sei ein Spitzel. Das brachte ihm ein gewisses Einkommen.“
Einmal noch, um zu vervollständigen, was in diesem Requiem über den „Österreicher“ geschrieben steht, kommt der sich blind stellende österreichische Spitzel vor in diesem Buch, mit diesen wenigen Zeilen …
„Am Sonntag bat auch Lubitsch, als er noch als blind galt, jemand möge ihm ein Stück Brot geben. Das Symbol der Kommunion. Meine Mutter kümmerte sich um diese besondere Nahrung. Lubitsch umarmte sie überschwänglich, zumal ein Teil des Brotes auf dem Tisch liegen blieb, was am Ende der Woche immerhin schon etwas war.“
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